Andreas Kalckhoff
Nacio Scottorum.
Schottischer Regionalismus im Spätmittelalter.

Die Literaturangaben in den Anmerkungen sind Kurztitel; für den vollen Titel siehe Literaturverzeichnis.

Einleitung: Schottischer Nationalismus, schottischer Regionalismus
2. Fortsetzung:
Nationalismus als politische Bewegung mit einer ausformulierten (wenn auch nach Zeit und Ort varianten) Ideologie gibt es seit dem 18. Jahrhundert; der Begriff selbst setzte sich im späteren 19. Jahrhundert durch 57). Doch hieße es einem kruden Begriffsrealismus frönen, wollte man Realität erst mit dem Wort beginnen lassen oder das Wort schon für Realität nehmen. Oft verstecken sich neue Erscheinungen hinter alten Begriffen, willkürlich oder gezielt: "Patriotismus" - vom antiken patria-Begriff abgeleitet, dem er einige Zeit auch entsprach - stand noch im 19. Jahrhundert für einen Nationalismus, dem der Name fehlte 58). Dagegen meinte "Nation" (von lateinisch: nacio, "Geburt") lange Zeit beliebige Herkunftsgruppen wie Völkerschaften, Landsmannschaften, Stände - nur nicht, was wir heute darunter verstehen 59). Das Problem, das sich aus solcher Begriffsentwicklung ergibt, heißt "semantische Gefangenschaft": die Befangenheit in der jeweils gegenwärtigen Wortbedeutung.
Im Falle des Nationalismus kann man ihr zunächst durch einen Trick entgehen: mit dem Begriff "Nationalbewußtsein", der geeignet ist, den Nationalismus in statu nascendi zu zeigen. Die Forschung hat von dieser Möglichkeit überreichen Gebrauch gemacht und am Ende sämtliche vornationalistischen Bewußtseinslagen darunter subsumiert; das Charakteristische der Nationalidee - die Loyalität gegenüber eigenschaftsbestimmten Großgruppen - ging dabei verloren, Übergänge vom Stammesbewußtsein zum Patriotismus, vom Patriotismus zum Nationalismus wurden a priori verwischt. Eine sinnvolle Differenzierung kann indes nur ergeben, daß dem Nationalismus eine Ideologie zur Verfügung steht, die dem Nationalbewußtsein noch abgeht; im Verhalten, das dem Nationalismus oder dem Nationalbewußtsein entspricht, darf sich kein wesentlicher Unterschied zeigen 60). "Nationalgefühl" als beliebiges ethnisches oder demotisches Wir-Bewußtsein ohne besondere gesellschaftliche Wirkungen und ordnungspolitische Folgen ist dagegen als Begriff wenig hilfreich; ihm begegnen wir in der Tat zu allen Zeiten, und es stellt somit eher eine sozialpsychologische Konstante denn eine historische Erscheinung dar.
Im Fall "Nation" steht uns kein Übergangsbegriff zur Verfügung, was wir aber aufwiegen können, indem wir die Nation dem Nationalbewußtsein zuordnen und dadurch einen größeren historischen Spielraum gewinnen. "Nation" in diesem Sinne ist nicht von einer ausdrücklichen "Nationalidee" abhängig, versteht sich aber auch nicht einfach aus dem Wort, wie es uns etwa in der mittelalterlichen nacio begegnet. Vielmehr erscheint sie als Gesellschaftstypus, der durch die besondere Art seiner Identitätsbildung beschrieben ist, das heißt durch den Rollentyp, der die Gesellschaftsmitglieder aneinanderbindet. Dies ist im "Stamm" die Rolle des Verwandten, im "Vaterland" die Rolle des Mitbürgers und Nachbarn, in der "Nation" die Rolle des Volksgenossen oder Staatsangehörigen. Die Vorstellung, daß Verwandtschaftszusammenhänge, Bürgerschaften, Volksgemeinschaften und Staatswesen in ihrem jeweiligen Bestand exklusiv sind, begründet die stammesmäßige, vaterländische oder nationale Identität 61).
Damit ist unsere Frage, ob die spätmittelalterliche nacio Scottorum begrifflich der modernen schottischen Nation entspricht, wie folgt präzisiert: Welcher Rollentyp - und damit verknüpft: welches Gruppenbewußtsein - verschaffte dem schottischen Gemeinwesen im 13. und 14. Jahrhundert Zusammenhalt und Identität? Der Unabhängigkeitskrieg gegen England bietet sich dabei nicht nur deshalb als Prüfstein an, weil seine Erinnerung in das nationalistische Argument, die schottische Nationalidee, einging, sondern weil sich die Qualität eines Gemeinwesens am deutlichsten bei Herausforderungen zeigt, sei es äußere Bedrohung oder innere Spaltung, Freiheitskrieg oder Revolution. Erst die Identitätskrise problematisiert die Identität. Wir fragen also, wie sich Schottland im Spätmittelalter verstand, wie es sich gesellschaftlich organisierte, unter welchen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen sich sein Abwehrkampf vollzog. Da Krisen auf Brüche und Wandlungen im Gefüge hinweisen, interessieren uns dabei die soziale und die regionale Schichtung der Widerständler ebenso wie die Anzeichen eines gesellschaftlichen Strukturwandels.
Stamm, Vaterland und Nation haben unter der Bedingung äußerer und innerer Bedrohung eines gemeinsam: Sie grenzen sich nach außen hin ab und mobilisieren im Inneren Loyalität und Friedensbereitschaft. Auch dies ist nicht selbstverständlich, wie wir uns an einem anderen Großgruppentyp, dem "Reich", vergegenwärtigen können. Wenn sich Reiche von außen bedroht sehen, reagieren sie - soweit es in ihrer Macht steht - mit Grenzerweiterung; wenn sie von innen in Gefahr geraten, versuchen sie, den Gefahrenherd zu isolieren und wie einen Fremdkörper zu behandeln, den man ausstößt oder vernichtet, im Falle sozialer und regionaler Konflikte gleichermaßen. Reiche sind darauf angelegt, im Idealfall die gesamte bewohnte und zivilisierte Welt, die "Ökumene", zu umfassen; Stämme, Vaterländer und Nationen erscheinen von diesem "Reichsgedanken" her lediglich als "Regionen" innerhalb oder außerhalb der Ökumene. Eine Bewegung, die sich gegen den Herrschaftsanspruch von Reichen wendet, kann man demnach auch als "Regionalismus" bezeichnen; Stammesbewußtsein, Patriotismus und Nationalismus sind darin als Varianten enthalten 62).
Das Ergebnis des Unabhängigkeitskrieges 1296-1357 berechtigt vorweg zur Annahme, daß Schottland im Spätmittelalter eine "Region" bildete, die sich gegen ein "Reich" zur Wehr setzte; dies gilt jedenfalls für das Verhältnis zu England. Sie schließt nicht aus, daß wir auch einem schottischen Reichsbewußtsein begegnen, das zu diesem Regionalismus in Widerspruch steht; wie wir überhaupt mit konkurrierenden Großgruppengefühlen infolge einer ungleichmäßigen Sozial- und Regionalentwicklung rechnen müssen, was dann auch die Aussage über den schottischen Großgruppentypus im fraglichen Zeitraum erschwert 63). Diskontinuitäten in der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Struktur werden uns deshalb ebenso interessieren wie Homogenitäten 64).
Dazu sind drei Schritte vorgesehen. Als erstes wird das schottische Gemeinwesen am Maßstab der Nationalidee gemessen, die Nation als funktionalen Zusammenhang von Ethnos und Demos beschreibt. Als zweites werden die regionalen und sozialen Segmente Schottlands nach ihrem regionalistischen Engagement befragt. Als drittes werden Gründe aus Politik, Wirtschaft und Kultur gesucht, die den schottischen Regionalismus begünstigten - oder behinderten. Zusammen soll dies ein Bild Schottlands im 13. und 14. Jahrhundert ergeben, das Rückschlüsse auf seine Großgruppenverfassung zuläßt und diese zugleich erklärt.
Es fehlt in der schottischen Literatur nicht an Versuchen, den Unabhängigkeitskrieg "nationalistisch" zu deuten; Maßstäbe und Motive des 19. und 20. Jahrhunderts wurden dabei unkritisch auf das Spätmittelalter übertragen 65). Indes gibt es bisher keine Untersuchung, die das Großgruppenbewußtsein Schottlands zu dieser Zeit in den Mittelpunkt stellt und nach seinem Inhalt, seinen Gründen und Funktionen fragt. In Arbeiten zum schottischen Nationalismus wird das Mittelalter stets kursorisch behandelt, das Gewicht liegt auf der Neuzeit. Dies gilt auch für die beiden einzigen deutschen Aufsätze zu diesem Thema 66). Zum schottischen Unabhängigkeitskrieg findet sich in der deutschen Literatur fast nichts. Ausnahmen bilden die ältere Monographie von Friedrich Brie zur "Nationalen Literatur Schottlands" (1937) und M. Richters Untersuchung zur "Sprache und Gesellschaft im Mittelalter" (1979). Brie befaßt sich jedoch nicht mit dem Krieg selbst, sondern mit seiner literarischen Langzeitwirkung, und Richter steuert zur schottischen Geschichte lediglich einen Exkurs (sechs Seiten) bei 67).
Insofern kann man die folgende Studie auch als fälligen Beitrag zur Rezeption eines bedeutenden Teiles schottischer und britischer Geschichte sehen 68). Darüberhinaus erhält unser Thema durch den Umstand Gewicht, daß der schottische Unabhängigkeitskrieg keine isolierte Erscheinung war. Vielmehr steht er in einer Reihe mit regionalistischen Erhebungen in Irland (1258-1327), Flandern (1297-1383), der Schweiz (1291-1388) und Sizilien (1282-1372). Da die politische Geschichte Schottlands, insbesondere der Zeit 1296-1357, beim deutschen Leser nicht vorausgesetzt werden kann, ist eine chronikalische Einführung angebracht; mit ihr beginnen wir die Studie.



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© Andreas Kalckhoff, Version März 2001




































Anmerkungen

57) Zur Begriffsgeschichte des Nationalismus: A. KEMILÄINEN, 'Nationalism', 1964, pp. 48-53; G. DE BERTIER DE SAUVIGNY, 'Liberalism, Nationalism and Socialism', 1970, pp. 155-161; A. D. SMITH, 'Theories of Nationalism', 1971, pp. 167 ff.... zurück zum Text
58) Die Gleichsetzung von "Nationalismus" und "Patriotismus" ist heute noch in der angelsächsischen Welt üblich.... zurück zum Text
59) Zur Begriffsgeschichte von Nation: FR. HERTZ, 'Wesen und Werden der Nation', 1927, pp. 1-22; O. FRIEDLÄNDER, 'Individuum, Klasse und Nation', 1947, pp. 36 ff.; p. GÖRLICH, 'Frage des Nationalbewußtseins in den ostdeutschen Quellen des 12.-14. Jahrhunderts', 1964.... zurück zum Text
60) Die Betonung liegt hier auf "wesentlich". Damit ist gemeint, daß der charakteristische Bezug "nationalen" Verhaltens auf Großgruppen, die ein ethnisches oder demotisches Kontinuum darstellen, für Nationalismus und Nationalbewußtsein gleichermaßen gelten muß. Aber es macht natürlich einen Unterschied, ob diese Charakteristik ausgesprochen oder nur impliziert wird. Intention, vor allem wenn sie verbalisiert wird, kann grundsätzlich nicht von Verhalten getrennt werden; den behavioristischen Ansatz teile ist nicht.... zurück zum Text
61) "Exklusiv" heißt hier, daß die jeweilige Großgruppe einen Personenbestand hat, der nicht beliebig austauschbar ist, der also individualisiert ist.... zurück zum Text
62) Eine Theorie der Reiche ist mir nicht bekannt; die Arbeiten, die es zum Verhältnis der mittelalterlichen Reichsidee zum Entstehen der "Nationalstaaten" gibt, sind in dieser Hinsicht ganz unbefriedigend. Einige Titel: H. FINKE, 'Weltimperialismus und nationale Regungen im späteren Mittelalter', 1916; R. WALLACH, 'Abendländisches Gemeinschaftsbewußtsein im Mittelalter', 1928; H. WIERUSZOWSKI, 'Vom Imperium zum nationalen Königtum', 1933; M. THILO, 'Recht der Entscheidung über Krieg und Frieden', 1933; H. SPROEMBERG, 'Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee im Mittelalter' (1959).... zurück zum Text
63) England etwa bildete im 13., 14. und 15. Jahrhundert sicher ein Reich und dies durchaus noch im mittelalterlichen Sinne als Herrschaft eines Königs über viele Völkerschaften; doch zur gleichen Zeit wurde England in den Grenzen des angelsächsischen Reichs Eduards des Bekenners zu einem Vaterland, einer Nation - jedenfalls zu einem modernen Territorialstaat.... zurück zum Text
64) Vergleiche dazu K. W. DEUTSCH, 'Nationalism and Social Communication', 1953, p. 15: "In jedem dieser Fälle sollen wir nicht nach Wegen Ausschau halten, die gleichmäßige Verteilung von Daten zu beschreiben, sondern im Gegenteil nach Möglichkeiten, Diskontinuiäten und unregelmäßige Entwicklungen zu berücksichtigen. Eine Theorie, die auf die Annahme der Regelmäßigkeit aufgebaut ist, wird mit einer Welt von Ausnahmen in Konflikt geraten. Aus diesem Grunde müssen wir die Prozedur umkehren. Wir müssen nach Arbeitshypothesen suchen, die von Unregelmäßigkeiten und Diskontinuitäten ausgehen; gelegentlich auftretende Regelmäßigkeiten können wir dann jederzeit als Grenzfälle behandeln." Dazu auch ders., 'Politische Kybernetik', 1969, p. 46.... zurück zum Text
65) Auf diese Neigung wird in der Fallstudie im Einzelfall hingewiesen.... zurück zum Text
66) D. SCHRÖDER, 'Keltischer Nationalismus', 1970; R.-O. SCHULTZE, 'Neo-Nationalismus in Großbritannien', 1980. - SCHULTZE ist in den wenigen Daten, die er zur schottischen Geschichte anbietet, auch noch fehlerhaft: Die "Unabhängigkeitskriege" endeten nicht 1314 (Schlacht von Bannockburn), sondern 1328 bzw. 1356; und die Schlacht von Culloden fand nicht 1745 statt (p. 27), sondern am 6. April 1746. Man mag dies freilich einem Politologen nachsehen, zumal sich selbst schottische Politikwissenschaftler in ihrem Mittelalter irren: J. BRAND läßt die Schlacht von Bannockburn 1314 unter dem englischen König Eduard III. (1327-1377) stattfinden! ('National Movement in Scotland', 1978, p. 12)... zurück zum Text
67) BRIE behandelt allerdings den Krieg selbst nicht, sondern nur die folgende nationale Literatur darüber. - Auch RICHTER ist, was die Ereigniszusammenhänge angeht, ungenau; so bezeichnet er Robert de Brus (Bruce), den Vater des späteren schottischen Königs Robert I., als "einen der Bewerber um den schottischen Thron" (p. 125). Als "einer der Thronbewerber" (unter anderen) trat indes, als die Entscheidung noch offen war, nicht der Vater, sondern der Großvater König Roberts auf (1291/ 92) auf. Robert de Bruyse senior (le veil) erschien demgegenüber 1296, als er den siegreichen Eduard I. um das schottische Königtum anging, lediglich als Bittsteller (vgl. dazu Kapitel 1.0., Abschnitt 1.O.2.,und Kapitel 1.2., Anmerkung 217).... zurück zum Text
68) Daß D. SCHRöDER die jeden schottischen Schulkind geläufige Declaration of Arbroath 1320 als "kaum bekanntes historisches Datum" bezeichnen kann, ist für den deutschen Forschungsstand symptomatisch ('Keltischer Nationalismus', 1970, p. 26). ... zurück zum Text



























© Andreas Kalckhoff, Version 9. März 1996