Andreas Kalckhoff
Nacio Scottorum.
Schottischer Regionalismus im Spätmittelalter.

Die Literaturangaben in den Anmerkungen sind Kurztitel; für den vollen Titel siehe Literaturverzeichnis.

Schluß: Wesen und Bedingung der Nacio Scottorum
3. Fortsetzung:
Die Entstehung der nacio Scottorum, so fassen wir zusammen, hatte seine Ursache in einem sozialen Verhaltenswandel und der damit verbundenen Gesellschaftsveränderung. Am Anfang stand der Übergang von der Stammesgesellschaft zum Feudalverband, vom familienmäßigen Sozialbezug zur sachvermittelten Ordnung. Mit dem revolutionären Machtgewinn der Mittelschichten durch die Befreiung der Arbeit, durch neue Kriegstechniken und das Entstehen einer Bürgerkultur erweiterte sich die exklusive Adelsgemeinde zum allgemeinen Staat, bekam die ortsunabhängige Politeia territoriale Bindung; Adel, Bürger und Bauern begegneten sich auf einem landweiten Markt bevorzugten Austausches und Wettbewerbs. Die territorialstaatliche Integration verlief dabei nicht ohne Konflikte; als Krisen des sozialen Wandels erscheinen Revolution, Bürgerkrieg, Separation und - bezogen auf das zwischenstaatliche Verhältnis - Unabhängigkeitskämpfe.
Revolution und Bürgerkrieg: Hierbei ging es um die Neuverteilung der Macht in einer Gesellschaft, in der Ausbeutung zunehmend auf Widerstand stieß und die Raubmentalität vom Gedanken an das bonum commune gebändigt wurde. Zur Separation kam es, wenn ein Teil des Landes vom Integrationsprozeß nicht erreicht wurde oder - wie Flandern gegenüber Frankreich - einen Integrationsvorsprung gewonnen hatte. Integration - Intensivierung des Austausches, wechselseitige Abhängigkeiten, Interessenabstimmung - bedeutete eine Verdichtung der Gesellschaft, die das Gemeinwesen gegen Eingriffe empfindlich machte. Dies führte bei äußerer Bedrohung zur Abgrenzung, im schlimmsten Falle zum Unabhängigkeitskrieg, obwohl es dem Austausch mit anderen Gesellschaften grundsätzlich nicht im Wege stand.
Die Verteidigungsbereitschaft von Staatsbürgern, die im bonum commune (Gemeinwohl) ihr Ziel und Interesse erkennen, nennen wir Patriotismus. Das Gemeinwesen (communitas), das sie verteidigen, heißt danach Vaterland. Es wird zur Nation, sobald man im Gemeinwohl nicht mehr das Ziel, sondern das Ergebnis von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit sieht. Im Unterschied zum Patriotismus sorgt sich der Nationalismus weniger um Recht und Freiheit politisch verbundener Individuen als vielmehr um Glück und Heil einer Schicksalsgemeinschaft. Die nacio Scottorum, die im 13. und 14. Jahrhundert ihre Identität verteidigte, war so verstanden keine Nation, sondern ein Vaterland, auch wenn erste Anzeichen nationaler Denkart zu beobachten sind. Dieser rudimentäre Nationalismus begründete die nacio ethnisch und bezog sich dabei auf den gälischen Bevölkerungsteil; doch nicht als "Volk" gewannen die Schotten schließlich Nationalbewußtsein, sondern als "Staatsnation". Die nacio Scottorum hat darum mit der modernen schottischen Nation nur das Land gemein und die Geschichte, auf die sich ihr Nationalbewußtsein stützt.
Eine Verbindung zwischen nacio und moderner Nation stellt allerdings auch der Regionalismus her, der Stammesbewußtsein, Vaterlandsliebe und Nationalgefühl begrifflich zusammenfaßt. Gemeinsam ist diesen nämlich das Bemühen um Integration und Abgrenzung, auch wenn es beim Stamm um "natürliche" Arbeitsteilung, "organische" Solidarität und "archaische" Fremdenfurcht, bei Vaterland und Nation dagegen um "gesellschaftliche" Arbeitsteilung, "mechanische" Solidarität und staatliche "Souveränität" oder wenigstens "kulturelle" Autonomie geht. Sie stehen damit in Gegensatz zum Reichsdenken (Ökumenismus), das sein Ziel in Grenzerweiterung und "Befriedung" findet, was für die Betroffenen bedeutet: Einverleibung oder Ausrottung 25). Allerdings wenden sie sich aus unterschiedlichen Gründen gegen den Herrschaftsanspruch von Reichen: die Hausgenossen und Stammesbrüder, weil sie mit den Eroberern nicht verwandt sind; die Nachbarn und Bürger, weil die Invasoren ihnen Recht und Freiheit nehmen; die Volksgenossen und Staatsangehörigen, weil die Fremdherrscher ihnen nicht gleichen.
Zu Zeiten, da England und Schottland noch Stammesgesellschaften bildeten, hatten sich die Schotten gegen ihre (vorübergehende) Einverleibung in das anglo-angewinische Imperium kaum gewehrt. Die beiden Gesellschaften konnten sich noch durchdringen; mit der Verschwägerung des Adels wurde erreicht, was Stammesgesellschaften verträglich macht: Verwandtschaft. Doch dies genügte 1296 nicht mehr. Nun gehörten auch Bauern und Bürger zur Gesellschaft, und das Gemeinwesen wurde nicht durch Verwandte, sondern durch Nachbarn und Mitbürger gebildet - auf beiden Seiten der Cheviot Hills. Die Reiche vereinigen bedeutete jetzt, aus Engländern und Schotten eine Bürgerschaft machen. Eduard I. versuchte es, doch wie er erfahren mußte, ging dies nicht gegen den Willen der Betroffenen. Früher hätte es gereicht, den Adel zu besiegen oder auszurotten; nun bekam es der Eroberer mit einem ganzen Volk zu tun. Der Regionalismus im Zeichen von Vaterland und Nation erwies sich widerstandsfähiger als der, den das Stammesbewußtsein hervorbrachte.
350 Jahre bewahrten die Schotten ihre "Freiheit", die sie 1357 wiedergewonnen hatten, und sie wurden unterdes zur Nation. Doch 1707 gaben sie, zum überwiegenden Teil freiwillig, ihre Unabhängigkeit hin; das schottische Parlament löste sich auf, die Parlamentarier gingen nach Westminster, wo sie unter Engländern hoffnungslos in der Minderzahl waren. Wie das? Ist Volkstum und Nationalität nicht gleichzusetzen mit dem Willen, ja der Pflicht zu politischem Eigenleben, das es notfalls mit Blut zu verteidigen gilt? Das schottische Beispiel zeigt, das dem nicht so ist. Mehr noch: Es macht deutlich, daß Volk und Nation nicht Endziel der Geschichte, sondern - als Teil gesellschaftlicher Entwicklung - vorübergehende Erscheinungen sind.
Wenn Patriotismus und Nationalismus in Schottland zur bewegenden Kraft wurden, so immer nur als Vektor verschiedener, auch gegenläufiger Tendenzen, niemals als Ausdruck eines "einig Volk von Brüdern". Dies konnte gar nicht anders sein. Die Integration. der Gesellschaft hatte durchaus ihre Grenzen. G. Donaldson beschreibt die schottische Herrschaftsstruktur nicht zu unrecht als "Reihe von Kreisen, die sich eher überschneiden, als daß sie konzentrisch waren" 26). Dabei wirkte gerade der Unabhängigkeitskampf hemmend auf die staatliche Entwicklung. Sechs Jahrzehnte Krieg, davon fünfunddreißig ohne königliche Führung, machte die schottischen warlords zu Kleinkönigen, denen König und Parlament nur den Namen entgegenzusetzen hatten. Diese Kriegsherren übten ihre Herrschaft aber nicht in der Weise moderner Territorialfürsten, sondern als Gefolgschaftsführer nach dem Familienprinzip; wurden sie enterbt (oder rehabilitiert), traf es auch ihre Anhängerschaft - ihr following oder interest. Hier entwickelte sich jener "Bastard-Feudalismus", der sich bis ins 16. Jahrhundert gegenüber den staatlichen und zentralherrschaftlichen Kräften des Königtums und der Stände mit personalen und segmentären Herrschaftsformen behauptete.
Gestört wurde durch den Krieg und die fortdauernden Grenzfehden aber auch der Ausbau des Marktes. Es deutet einiges darauf hin, daß Schottland - ähnlich wie Nordengland - während der Kriegsjahre in manchen Gebieten von der marktorientierten Wirtschaft zur segmentären Subsistenzwirtschaft zurückkehrte. In kultureller Hinsicht förderte der Unabhängigkeitskampf zwar das Gemeinschaftsbewußtsein, doch sind die verbleibenden Gegensätze zwischen Stadt und Land, Ackerbauern und Viehzüchtern, Adel und gemeinem Mann keineswegs gering zu schätzen. Der "dritte Stand" hatte im 13. und 14. Jahrhundert noch nicht die Homogenität erreicht, die den englischen Mittelstand zur gleichen Zeit schon auszeichnete 27). Als es dann soweit war, tat sich eine neue Kluft auf: Der Adel, ökonomisch in der Verteidigung, setzte sich mit dem trotzigen Spruch: "Wenn auch arm bin ich doch adelig!" vom Bürger ab 28); dieser drängte dafür den "verräterischen Adel" aus der Nation. Dazu kam jetzt der Gegensatz zwischen "Hochland" und "Tiefland", zwischen "Irischsprechenden" und "Englischsprechenden", der bis ins 20. Jahrhundert wirkte.
Im Unterschied dazu wurden sich Tieflandschotten und Engländer immer ähnlicher, nicht nur der Sprache nach. Trotz der Verödung des Grenzlandes riß der Kontakt zwischen England und Schottland nicht ab; nach wie vor studierten schottische Studenten in Oxford, fanden englische Literatur und Publizistik Eingang in das schottische Geistesleben 29). Auch die Idee der politischen Vereinigung blieb aktuell: Schon 1363, nach der eben erst erkämpften Unabhängigkeit, war wieder von einer Personalunion der beiden Reiche die Rede 30). Als dann 1603 ein schottischer König, Jakob VI. Stewart (Stuart), auf den englischen Thron folgte, mochte es scheinen, als habe sich - Ironie der Geschichte! - das kleine Schottland den mächtigen Nachbarn einverleibt. Doch weit gefehlt. Die Stuarts regierten von London aus in erster Linie als englische Könige; Schottland blieb als Symbol seiner Nationalität nur mehr das Parlament.
Die Ereignisse der Reformation und Revolution zeigten indes, daß die nationalen Frontlinien ohnehin nicht ungebrochen waren: Soziale und religiöse Allianzen griffen vielfältig über die Grenzen hinweg und deuteten das Entstehen einer umfassenden, britischen Gesellschaft an. Dies wurde durch die Vereinigung der Kronen sicher begünstigt; entscheidend war jedoch nicht die Aktivität der Könige, sondern die soziale und ökonomische Dynamik des Mittelstandes: Engländer und Schotten handelten gemeinsam und stritten sich wie Angehörige eines Gemeinwesens. 1707 befand schließlich eine Mehrheit auf beiden Selten, daß dem bonum commune ein vereinigtes Parlament besser diene als zwei getrennte Körperschaften. Die schottische Nation verflüchtigte sich in der Folge zunehmend zugunsten einer großbritischen Nationalität. Dem widerspricht nicht, daß diese Bewegung seit dem 19. Jahrhundert wieder rückläufig ist; es führt vielmehr noch einmal den historischen, also veränderlichen Charakter von Volk und Nation vor Augen.
Dabei können wir nicht ohne weiteres sagen, daß dem modernen schottischen "Devolutionismus", der Entwicklung weg von England, wirklich ein neues Nationalbewußtsein zugrundeliegt; dies müßte erst untersucht werden. Zweifellos handelt es sich jedoch um Regionalismus und ist als eine Fortsetzung dessen zu verstehen, was wir dem jeweiligen Gesellschaftszustand entsprechend als Gentilismus, Patriotismus und Nationalismus beschrieben haben. Es gibt Anzeichen, daß unsere Gesellschaften nicht mehr in der Weise zusammengefügt sind wie die Nationen des 19. und frühen 20. Jahrhundert: daß dementsprechend auch ihr Gemeinschaftsbewußtsein anderer Natur ist. Tatsächlich fällt es schwer, den Regionalismus der Schotten und Waliser, der Bretonen und Elsässer, der Flamen und Wallonen oder auch die Renaissance des bairischen und alemannischen, des fränkischen und friesischen "Stammesbewußtseins" dem bekannten Nationalismus zuzuordnen - nicht zuletzt, weil gerade die klassischen Nationen Gegenstand des regionalistischen Angriffs sind 31). Dem Regionalisten erscheinen diese Nationen als Reiche; aus Reichen sind sie ja auch fast alle hervorgegangen und Reiche haben sie, über ihren nationalen Bestand hinaus, in der Zeit des Imperialismus auch wieder zu bilden versucht.



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© Andreas Kalckhoff, Version März 2001




































Anmerkungen

25) "Befriedung" ist hier nicht zu verwechseln mit den Zielen der Landfriedensbewegung, die Frieden zwischen Bürgern stiftete und der gesellschaftlichen Integration diente, indem sie ein Mehr an Kommunikation und Interaktion ermöglichte; vielmehr ist damit die Unterdrückung oder Ausrottung von "Unruheherden" gemeint, wie sie unter dieser Bezeichnung (pazification) von den Amerikanern etwa in Vietnam geübt wurde. ... zurück zum Text
26) Donaldson: Series of circles which are intersecting rather than concentric with another (G. DONALDSON, 'Scottish Kings', 1967, pp. 48 ff.). ... zurück zum Text
27) A. M. MACKENZIE, 'Robert Bruce' (1934), pp. 61 f. ... zurück zum Text
28) Though poor I am noble! (F. MACLEAN, 'Concise History', 1970, p. 68. ... zurück zum Text
29) A. L. MORTON, 'Volksgeschichte Englands', 1956, pp. 118 f. ... zurück zum Text
30) Bereits 1363 hatte Graf Douglas mit einer englischen Kommission in Westminster über die Möglichkeit einer Personalunion zwischen den beiden Reichen unter Eduard III. oder seinem ältesten Sohn oder der Thronfolge einer Seitenlinie der Plantagenets (also durch einen jüngeren Bruder des später sogenannten "Schwarzen Prinzen") verhandelt, da König David II. immer noch kinderlos war. Allerdings zerschlugen sich die Verhandlungen, und schließlich wurden solche Pläne vom schottischen Parlament auch abgelehnt; weder David noch die Kamerilla um den präsumtiven Thronfolger Robert Stewart hatte im übrigen mit den Verhandlungen ernste Absichten verfolgt - was die Stewarts betrifft, freilich kein Wunder! ... zurück zum Text
31) Vergleiche dazu T. NAIRN, 'Break-Up of Britain', 1977, pp. 127 ff. ... zurück zum Text




























© Andreas Kalckhoff, Version 9. März 1996