Andreas Kalckhoff
Nacio Scottorum.
Schottischer Regionalismus im Spätmittelalter.

Die Literaturangaben in den Anmerkungen sind Kurztitel; für den vollen Titel siehe Literaturverzeichnis.

Schluß: Wesen und Bedingung der Nacio Scottorum
Schottlands Unabhängigkeit war anerkannt worden ... Aber mehr noch als nur Unabhängigkeit war erreicht worden. Der lange Kampf mit England hatte die Aufgabe vollendet, die Staat und Kirche Hand in Hand schon früher in Angriff genommen hatten. Ein Land hatte sich zu einer Nation gewandelt. Leute aus allen Ecken des Landes hatten bei Bannockburn Seite an Seite gekämpft. Die Bitternis eines langen und zerstörerischen Krieges und seine unmittelbare Erneuerung nach Bruce's Tod durch England und der damit verbundene fortwährende Kampf Schottlands um den Erhalt seiner Unabhängigkeit ließ jedoch den jungen Patriotismus in eine Feindschaft gegenüber England umschlagen, die Jahrhunderte andauerte. England wurde zum 'Erbfeind' (Auld Enemey)."
So steht es bei William C. Dickinson 1). A. A. M. Duncan verschärfte die These noch in einem Aufsatz zu Barrows Monographie über Robert Bruce: Das Buch handle von "einer Nation, der community of the realm of Scotland ... Es zeigt, daß die community politische Ideen hatte und in Jahren der Not und Gefahr zu konstruktivem politischen Handeln fähig war; Schottland hatte im Verlauf des friedvollen 13. Jahrhunderts politische Identität oder Nationalität entwickelt: ein Grund, nicht ein Ergebnis des Unabhängigkeitskrieges. Robert Bruce, der König, identifizierte sich mit dieser Nationalität und vollendete eine politische Revolution, wobei er sowohl einen Bürgerkrieg als auch einen Befreiungskrieg gewann 2). Was hat es damit auf sich?
Ergebnis des einundsechzigjährigen Krieges mit England war zweifellos die Unabhängigkeit Schottlands - für weitere 350 Jahre. Das schottische Gemeinwesen (community) hatte dem Versuch des Nachbarreiches widerstanden, die Oberhoheit über Schottland zu gewinnen oder wenigstens Teile davon zu annektieren. Dickinson sieht richtig, daß Unabhängigkeit nicht unbedingt etwas mit Nationalität zu tun haben muß. Zu allen Zeiten und unter verschiedenen Bedingungen und Gründen haben politische Gemeinschaften ("Großgruppen") auf ihrer Identität und Integrität bestanden. Unsere Frage war denn auch, ob die Schotten dies in der selben Art und Verfassung taten, wie die Nationen des 19. und 20. Jahrhunderts: als Mitglieder einer Gemeinschaft, die sich von ethnischen, politischen, religiösen und historischen Eigenheiten begründet dachten - ob also die mittelalterliche nacio Scottorum und die moderne schottische Nation begrifflich identisch sind.
Wir stellten zunächst fest, daß die Schotten, gemessen an den Varianten des herkömmlichen Nationalbegriffs, im 13. und 14. Jahrhundert keine Nation bildeten. Dies ist allerdings nicht weiter verwunderlich, denn eine Nation in diesem Sinne gab es nie. Es handelt sich dabei um eine "Nationalidee", die Teil jenes Nationalbewußtseins ist, das die Nation erzeugt, und nicht um eine wissenschaftliche Beschreibung dieser Nation. Jedenfalls bildete Schottland keine sprachliche, kulturelle, rechtliche oder territoriale Einheit, es gab kein durchgehendes Gemeinschaftsbewußtsein, und auch die demotische Einheit war vielfach gebrochen. Bei denen, die für Schottlands Unabhängigkeit kämpften, entdeckten wir denn auch durchaus unterschiedliche Motive; einige davon - das war ohne weiteres ersichtlich - hatten mit Nationalismus sicher nichts zu tun. Anderseits zeigten sich eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die nicht dem herkömmlichen Handeln entsprachen und auf ein neuartiges gesellschaftliches Selbstverständnis hinwiesen. Offenbar bestand ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Strukturwandel und den Besonderheiten des schottischen Unabhängigkeitskrieges. Was hatte sich geändert?
Schottland bildete am Ende des 13. Jahrhunderts in vieler Hinsicht noch eine Stammesgesellschaft. Ein Beispiel dafür ist insbesondere die soziale und politische Organisation der Clans; doch hatten präfeudale Elemente auch in stärker feudalisierten Reichsteilen überlebt. Als "Stamm" bezeichnen wir eine Großgruppe, die sich als Geschlechterverband versteht, in den man durch Geburt oder Adoption gelangt. Der Zusammenhalt ergibt sich durch echte oder fiktive Verwandtschaftsbeziehungen, die bis in mythische Zeiten rekonstruiert und auf einen gemeinsamen Urahn zurückgeführt werden. Der Stamm beruft sich demnach auf die Idee der Familie, womit freilich nicht die moderne Kleinfamilie gemeint ist, sondern die archaische Hausgemeinschaft als politische Grundeinheit; in historischer Zeit war dies ein Herrschaftsverband unter der Führung eines "Hausvaters" (im altrömischen Kontext der pater familias), der auch Sklaven, Hörige und Klienten (Gefolgsleute) einschloß. Familie und Stamm standen aber durchaus in einem Spannungsverhältnis; denn reiche Familien konnten, wenn sie eine große Gefolgschaft banden, den Stamm beherrschen und dabei mit anderen Familien in Konkurrenz um die Herrschaft treten.
Das Wir-Gefühl solcher (echter oder gedachter) Abstammungsgemeinschaften bezeichnen wir als "Gentilismus" oder Stammesbewußtsein. Mit Rücksicht auf die Spannung zwischen Stamm und Familie ist jedoch zwischen "Familialismus" und "Tribalismus" zu unterscheiden: Der eine bezieht sich auf Familie oder Clan als Rechts- oder Fehdepartei innerhalb des Stammes; der andere gilt dem Stamm als der umfassenden Friedens- und Kultgemeinschaft. Gemeinsam ist beiden der Bezug auf eine aktuelle politische Gemeinschaft, deren Angehörige sich persönlich (von Angesicht oder durch Wissen um die genealogischen Zusammenhänge) kennen. Die Art der "Verfassung", also der Rechtsordnung und des Kults, ist dabei ebenso unerheblich wie die sprachliche und habituelle Eigenart; denn kulturelle Merkmale galten als selbstverständlich, sie wurden nicht als Besonderheit erfahren, sondern als absoluter Wert, demgegenüber das Fremde Unkultur, "Barbarei" war.
Man spricht in diesem Falle von Ethnozentrismus, und hierin liegt auch der wesentliche Unterschied zum Nationalismus, mit dem das Stammesbewußtsein nicht verwechselt werden darf. Fremde Sprache, Sitte und Rechtsbräuche wurden in der Stammesgesellschaft durchaus beobachtet und gaben Anlaß zu Spott wie zur Rücksichtnahme. Doch kam man dabei nicht auf den Gedanken, nach sprachlichen oder personalrechtlichen Gesichtspunkten politische Gemeinschaften zu bilden: Nicht "Kultur" charakterisiert den Stamm, sondern das Bewußtsein um den genealogischen Zusammenhang, das den Stammesgenossen zum Verwandten macht.
Zweifellos handelten viele Schotten, wenn sie gegen die Engländer kämpften, aus Stammes- und Familienbewußtsein. Das gilt sicher für die westlichen Clansmen, aber auch für einen erheblichen Teil des Feudaladels und der feudalabhängigen Unterschichten. Im Vordergrund stand dabei der Familialismus, der Clangenossen, Gefolgsleute und Feudalabhängige an das Interesse eines "großen Namens" band - die MacDonalds oder MacDougalls, Comyns oder Bruses. Die präfeudale und feudale Rekrutierung über Clanverbände, Feudalaufgebote und die "Armeen" der Grafentümer bot dazu die Organisation. Wenn die Familientreue bei Adel und Volk, wie wir wissen, schon ihre Grenzen hatte, so waren ihr auf jeden Fall die betroffenen Familienmitglieder und im Westen wohl auch die Stammesgenossen völlig ergeben. Daß nicht nur die Clansmen ihrem Häuptling zu folgen hatten, sondern umgekehrt die Familienoberhäupter auch ihren Verwandten verpflichtet waren, zeigt die Bemerkung Roberts de Brus (le filz), daß niemand gegen sein Fleisch (sua caro) feindlich sein könne und er deshalb zu seinem Volk (populus) gehen und sich seiner Nation (nacio) anschließen müssen, aus der er geboren sei (1297).
"Nation" bezieht sich hier, wie die Wendung sua caro anzeigt, nicht auf Schottland, sondern auf die Stammesbrüder in Annandale, die sich im Aufstand gegen England befanden; was hier zum Vorschein kommt, ist also nicht Nationalismus (oder Patriotismus), sondern Gentilismus. Wir wissen zu wenig über die Clangesellschaft in Schottland um 1300, als daß wir sagen könnten, ob und in welcher Weise die Clans Stämme bildeten oder selbst als Stämme anzusprechen sind. Deshalb muß auch Umfang und Bezugspunkt des Tribalismus ungewiß bleiben. Sicher ist indes, daß Schottland als Ganzes nicht Gegenstand eines Stammesbewußtseins war. Schottland erschien den Clansmen als Reich, dem man Tribut und Waffendienst leistete, das als Zwingherr oder Bundesgenosse auftrat - Ökumene und Antipode der Stammesgesellschaft zugleich. Wenn die MacDougalls für Comyn und die MacDonalds für Brus kämpften, taten sie das nicht für oder gegen Schottland, sondern als Verwandte oder Verbündete dieser Familien. Ein Bündnis aber konnte, wenn sich die Zeitläufte änderten, ohne weiteres gekündigt werden - wie dies im Verhältnis der MacDonalds zu den Bruses unter König David geschah.
Auch das feudale Schottland entsprach hinsichtlich des herrschenden Familialismus und der Verschwägerung des Adels durchaus dem Typ der Stammesgesellschaft. Aber es reichte darüber hinaus. Die Adelsgemeinde (der populus) des Reiches konnte sich nicht als Abstammungsgemeinschaft verstehen; dazu waren ihre Mitglieder nach Sprache, Sitte und Herkunft zu verschieden. Auch wenn ein gewisser kultureller Ausgleich stattfand: Die unterschiedliche Herkunft wurde nicht so leicht vergessen. Tatsächlich erschien Schottland im wesentlichen als ein "Vaterland". Wir verstehen darunter eine Siedlungsgemeinschaft auf der Grundlage jenes Anciennitätsgedankens, wie er im Begriff "Heim" und "Heimat" zutagetritt: 3) Ihmzufolge leitet sich von der Erbsässigkeit ein gewohnheitsmäßiges Eigenrecht und damit - auf die Siedlungsgemeinschaft bezogen - ein Anspruch auf Selbstregierung her. Kennzeichen dieser Art von politischer Gemeinschaft ist nicht die Verwandtschaft, sondern die Nachbarschaft in Form einer verfaßten Gemeinde mit besonderem Bezug zum Siedlungsraum.
Das Vaterland stellt also, der Erfahrung und dem Handeln seiner Angehörigen nach, keine "natürliche" Gemeinschaft dar, die von einem Stammvater (manchmal ein Tier oder Gott) repräsentiert wird, sondern einen "willkürlichen" Verband, symbolisiert durch Gründerväter (Helden, Heilige, Pioniere), genossenschaftliche Gründungsurkunden (Unabhängigkeitserklärungen, konstitutionelle Manifeste) und transpersonale Zeichen (Wappen, Fahnen, Hymnen). Der paternalistischen Struktur des Stammes entspricht hier das Brüderlichkeitsprinzip, die Idee einer Gemeinschaft von Gleichen (pairs). Spielt sich im einen Fall das gesellschaftliche Handeln nach dem Vorbild der Familie in "organischer Solidarität" ein, so sind im anderen Fall die Beziehungen durch eine gewillkürte Ordnung ("Gesetzlichkeit") im Sinne "mechanischer Solidarität" geregelt. Wir nennen das Selbstbewußtsein eines solchen Vaterlandes "Patriotismus".
Ähnlich dem Stamm kennt auch das Vaterland zwei konkurrierende Konstitutiva, nämlich zum einen die "Landschaft" (auch Talschaft, Kanton, Schlag, Territorium, Stadt, Staat) 4), die in Nachbarschaft gründet, zum anderen die "Bürgerschaft" (politeia), die als Herrschaftsverband erscheint. Beide können identisch sein, sind es aber im Mittelalter nicht. Das Land vereinigt alle, die dort siedeln, zu einem Interesse und möglicherweise auch zu einer politischen Gemeinschaft, etwa der Landschaft des Ständestaates; die Politeia, die aus Adeligen wie aus Bürgern oder Bauern bestehen kann, erscheint demgegenüber von vornherein als organisierter und exklusiver Personenverband, der gerne als Elite auftritt - als jene "Gemeinde von Freien und Gleichen", die das Recht und die Möglichkeit hat, eine Ordnung zu schaffen und sie für die Masse der Abhängigen und Unmündigen verbindlich zu machen 5). Dementsprechend unterscheiden wir innerhalb des Patriotismus zwischen landschaftsbezogenem "Kantonismus" und herrschaftsbezogenem "Politëismus".
Zweifellos bildete der schottische Adel eine Politeia. Nicht gemeinsame Sprache und Herkunft, nicht die Solidarität eines Familienverbandes brachte Grafen, Barone und Freiherrn im Parlament, im Reichsrat und in der Regentschaft zusammen und ließ sie im Namen der sagenhaften Sieben Grafen oder der communitas regni handeln, sondern Pflicht und Interesse als gemeinsame Lehensnehmer der schottischen Krone. Als hervorragender Teil der "Reichsgemeinschaft", als Verkörperung des status regni sorgten sie sich - jedenfalls ein Großteil von ihnen - in besonderer Weise um den comun profit und die "königliche Würde", den Frieden und die Freiheit Schottlands. Symbol der schottischen "Freiheit" waren der Löwe, das Wappentier, und Andreas, der Kirchenheilige; später kamen die Helden William le Waleys (Wallace) und Robert de Brus (the Bruce) dazu, schließlich noch die "Erklärung von Arbroath". Ein weiteres Symbol des schottischen Vaterlandes war der König: nicht als Familienchef oder Stammeshäuptling, sondern als "Landesvater", als Vater der "Landeskinder". Dabei soll dieses anachronistische Wortspiel den Wandel deutlich machen: Zwischen Königvater und Volksöhne tritt nun das Land als gemeinsamer Bezugspunkt.
Denn der Adel mochte sich als Personalverband verstehen, als königliche Gefolgschaft und ritterliche Schwurgemeinschaft: Auch er fühlte sich nun an das Land - an Schottland - gebunden und zwar stärker als an irgendeinen König oder Feudalherrn. Jedenfalls seit 1296, und dies war in der Tat das Neue. Blicken wir zurück. Der Feudalismus hat ja, seiner Entwicklung gemäß, zwei Gesichter: Mit dem einen ist er der Stammesgesellschaft zugewandt, mit dem anderen Vaterland und Staat. Er entstand aus dem Gefolgschaftswesen, das Dienst mit Land vergalt und für Land Dienst nahm. Solche Gefolgschaften wuchsen aus der Stammesgesellschaft, und wenn sie auch nicht auf Verwandtschaft basierten, eignete Ihnen doch ein wesentliches Moment der Familie: der Vorrang persönlicher Beziehungen gegenüber sachbezogenen Interessen. Wenn man zwei Königen diente, kam man in zwei Reichen zu Land; dies mochte persönliche Probleme der Treue mit sich bringen - für das Verhältnis zum Land war es ohne Belang. Denn nicht der Landbesitz zählte - nicht die Verfügung über eine Sache, der Menschen anhingen - , sondern die Verfügung über Menschen, die ein Stück Land bewohnten.
Doch schon im 11. Jahrhundert begann man - jedenfalls in politisch fortgeschrittenen Gegenden wie Frankreich und Normandie -, dies anders zu sehen. Nun traten Sachen in den Vordergrund des Interesses - Landbesitz, der einem die Verfügung über die Menschen gab, die dort wohnten, und Geld, mit dem man Menschen in Dienst nehmen konnte. Dies galt für den König ebenso wie für den Adelsherren. Bisher erstreckte sich ein regnum soweit, wie die persönliche Macht eines Herrschers reichte, und ein Lehen bestand in der Anzahl von Personen, die einem Vasallen zur Herrschaft anvertraut waren; jetzt sah man im Lehen das Land, dessen Ausbeute und Verwaltung dem Vasallen überlassen war, und das Reich als Bestand von Lehen, einer Krone verbunden und einer Krone - der regia dignitas - würdig. Diese sachliche Form der Herrschaft, zunächst von den Herren organisiert, nahm wenig Rücksicht auf stammliche und provinziale Bindungen und deren Äußerungen in Sprache, Herkommen und Recht. Stämme und Landschaften wurden beinahe beliebig geteilt und zusammengefügt.
Dies wiederum änderte sich im 13. Jahrhundert. Schottland galt nun in den Augen seiner Verteidiger, aber auch des englischen Königs als unteilbar, wie sich in Birgham und beim "Großen Prozeß" zeigte. Es wollte sich auch nicht dem Nachbarland einverleiben lassen, weder ganz noch in Teilen; Johan de Balliol mußte darum einen Krieg führen, der ihm die Krone kostete, und seinem Sohn kostete es die Krone, daß er solch einen Krieg nicht führte. Man versuchte schließlich, "Schotten" und "Engländern", die sich in ihrer Sprache nicht unbedingt unterschieden, nach ihrem Wohnort und ihrer landschaftlichen Präferenz auseinanderzuhalten - durch Entflechtung der wechselseitigen Lehensabhängigkeit und einer "Apartheidspolitik", die sich zwar nicht an Rassenvermischung, dafür an der Verwirrung feudaler Treueverhältnisse stieß.
G. W. S. Barrow meint, daß man Patriotismus und Nationalismus als politische Triebkraft durchaus kannte, sie jedoch nicht als legitime Verhaltensweisen ansah: Zum Widerstand gegen fremde Herrschaft berechtigten allein Besitztitel, nicht die Heimat - bloß weil man dort geboren war 6). Demnach hätte es noch kein "Heimatrecht" gegeben, doch diese Annahme ist kaum gerechtfertigt. Die natalis patria, von der Frankreichs König mit Blick auf Schottland sprach, war offensichtlich für große Teile des Adels und anderer Schichten Grund genug, einen Krieg zu führen, der dem frühfeudalen Verständnis nach unsinnig erscheinen mußte. Tatsächlich fand der natalis patria-Begriff in der Theorie des 13. Jahrhunderts, unter Einfluß des wiederauflebenden römischen Rechts, schon Anwendung auf die fürstlichen Territorialherrschaften 7).
Die Versachlichung und damit "Territorialisierung" der Herrschaft schuf nämlich, wo sie die Stammesgesellschaft und ihre gentilen Bindungen zerschlug, gleichzeitig neue Formen der Gemeinschaft: Gemeinschaften, die nicht mehr durch persönliche Bezüge hergestellt wurden, sondern durch gemeinsame sachbezogene Interessen. Eine Interessengemeinschaft bildete etwa der Adel, auch wenn er dank der Verschwägerung seiner Mitglieder manchmal wie ein Familienverband daherkommen mochte. Den sachlichen Rahmen dazu gab das Land ab, das ein Fürst an sich band oder genauer, weil ja auch die Person des Königs hinter die Sache - die Institution des Königtums - zurücktrat: das einer "Krone" verbunden war. Freilich: Der Feudalverband griff zunächst vielfältig über das Land hinaus, durch Verwandtschaftsbeziehungen und Mehrfachvasallität gleichermaßen. Man fand wenig dabei, sich nach sachlichen Notwendigkeiten - Erbgang, Eroberung, Verpfändung - neu zu gruppieren, zu teilen, zu erweitern; und solange der Adel allein mächtig war, führte dies auch zu häufig wechselnden territorialen Konstellationen. Ein Wandel vollzog sich, als neue Schichten zur "Freiheit", d.h. Mitherrschaft, drängten. Dies geschah nicht ohne Beihilfe des Königtums, folgte aber auch eigenen Gesetzen.
Der Feudaladel hatte sich in mehreren Schüben der Eroberung und Überlagerung entwickelt und bildete eine mobile Kriegerkaste, die sich in ganz Europa zuhause fühlte. Den gentilen und landschaftlichen Bindungen war er entwachsen; jedenfalls orientierte er sich bei seinen politischen Aktivitäten nicht mehr an ihnen. Demgegenüber hing der Bauer vom Boden ab, den er beackerte, und der Bürger war an den Stadtfrieden gebunden, der ihm Freiheit gab. Der gemeine Mann erhielt seinen Rechtsstatus vom Ort, wo er wohnte. Der Bürger war Bürger nur, weil er in der Stadt ein Haus hatte; der Bauer war frei oder unfrei je nach dem, ob er auf "freiem" oder "unfreiem" Boden lebte; der Adelige dagegen konnte hingehen, wo er wollte - sein Stand wurde von der Ahnenreihe bestimmt.
Es ist nicht schwer zu verstehen, daß unter diesen Umständen der gemeine Mann ein anderes Verhältnis zu Land und Nachbarn hatte als der Adelsherr. Dies galt auch schon für den neuen Adel, der heranwuchs: die Ministerialen. Der Ritter, soweit er aus der Unfreiheit aufgestiegen war, gewann seinen Stand durch die Burg, auf der er Dienst tat; mit den untertänigen Bauern und den Ritterkollegen verband ihn die Landschaft, über die seine und die Nachbarburgen herrschten. Den Bezugsrahmen bildeten in Schottland zunächst Stadt (burgh), Tal (dale, glen, strath), Gau (gow), Grafschaft (shire) und schließlich das "Land" (terre) eines Grafentums (earldom) oder Baronats (barony). In dem Maße, da sich der König um den Mittelstand - Ritter, Bürger, Freisassen - bemühte, wurde für diese Leute auch die terre Descoce zu "ihrem Land"; ihre Anwesenheit beim Parlament macht das sichtbar. Anderseits wandte sich diese Schicht, die aus den lokalen Familien- und Feudalverbänden drängte und nach Herrschaftsteilhabe im Reich rief, von sich aus jener größeren Einheit zu, die für den Adel schon das politische Parkett bildete: Schottland.
Innerhalb der Reichsgrenzen sahen Bürger und Bauern nun ihre Heimat, und dementsprechend verhielten sie sich, als sei Schottland ihr Dorf, ihre Stadt, ihre Landschaft (county): Sie verteidigten es nachbarschaftlich, stellten es über das Einzelinteresse und beteiligten sich an seiner Regierung. Wir nennen dieses Verhalten "Kantonismus", und es ist unzweifelhaft, daß solche Vaterlandsliebe den Volksaufstand von 1297 ebenso begründete wie die Guerilla nach 1333, die Eduard de Balliol aus dem Land trieb und nicht unerheblich zum Frieden 1357 beitrug. Auch das geschlossene Handeln des Klerus zugunsten der schottischen Unabhängigkeit ist dem Kantonismus zuzuschreiben; die Kirche war ja, von ihrer Organisation in Provinzen her, ohnehin zu territorialem Denken disponiert.
Schottland beinhaltete also nicht nur eine Stammesgesellschaft, sondern bildete auch schon ein Vaterland - insofern, als ein erheblicher Teil der Schotten im Rahmen gewisser Institutionen zusammenwirkte oder sich wenigstens von ihnen vertreten fühlte; diese Institutionen - Königtum, Regentschaft, Reichsrat, Parlament - erschienen als status regni. Doch nicht allein Schottland als (vaterländischer) "Staat" band Loyalitäten, sondern auch schon Schottland als "Nation". Wir verstehen darunter eine Großgruppe, die in der Vorstellung gründet, sie zeichne sich durch besondere Eigenschaften aus und unterscheide sich darin von anderen Großgruppen. Wir wissen aus späterer Zeit, daß sich Nationalbewußtsein und Nationalismus vornehmlich an ethnischen oder demotischen Eigenheiten festhalten und entsprechend "Völker" und "Staatsnationen" hervorbringen. Es gibt daneben aber noch zwei weniger beachtete Formen; im einen Fall wird die Besonderheit einer dynastischen Herrschaft zum gemeinschaftsbildenden Faktor, im anderen die Besonderheit einer politischen oder religiösen Verfassung.
Fortsetzung ...



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© Andreas Kalckhoff, Version März 2001




































Anmerkungen

1) W. C. DICKINSON, 'Scotland', 1961, p. 174. Vergleiche dazu WILLIAM BURNS, der seinerzeit auch schon das Werden der "Nation" als Ergebnis des "Schulter-an-Schulter-Kampfes" der verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen Schottlands sah (W. BURNS, 'Scottish War of Independence', 1875, p. 453). ... zurück zum Text
2) A. A. M. DUNCAN, 'Community', 1966, p. 184. ... zurück zum Text
3) Es sei daran erinnert, daß im oberdeutschen Sprachraum das Wort "Heimat" (hoamat) für (Erb-) Hof steht, und daß auch im frühen Mittelalter patria einen mansus ("Hufe", Hof) meinte, im weiteren Sinne auch ein manerium ("Herrenhof"). "Heimat" ist von "Heim" abgeleitet und bedeutete ursprünglich "Grundbesitz". ... zurück zum Text
4) Turnbull warf 1969 in die Diskussion, daß "Land" das zentrale Problem des Patriotismus sei (A. R. TURNBULL, 'Discussion', 1969, p. 201). ... zurück zum Text
5) Aristoteles stellt dies in seiner "Politik" als die vernünftigste Regierungsform der polis vor; daher unser Begriff des "Politëismus". - "Elite" ist als eine Gruppe zu verstehen, die durch starke interne Solidarität zusammengehalten wird und gleichzeitig der Gesamtgesellschaft gegenüber Verantwortung zeigt oder jedenfalls so tut, als würde sie sich verantworten; "Masse" ist demgegenüber eine Gruppe mit geringer interner Solidarität und geringer Verantwortung der Gesamtgesellschaft gegenüber. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich nur der verantwortlich fühlen kann, dem auch "Verantwortung" gegebenen ist, d. h. der neben Pflichten auch Rechte hat. Masse und Elite definieren sich in diesem Sinne gegenseitig und existieren in wechselseitiger Abhängigkeit; wo es keine Elite gibt, gibt es auch keine Masse. ... zurück zum Text
6) G. W. S. BARROW, 'Robert Bruce', 1965, pp. 348 f. ... zurück zum Text
7) G. POST, 'Nationalism in Middle Ages', 1953, p. 296; er beruft sich wiederum auf E. H. KANTOROWICZ, 'Pro patria morti', 1951. - in Italien fand der "natalis patria"-Begriff auch Anwendung auf die Stadtrepubliken (G. POST, p. 292). Huizinga weist darauf hin, daß patria bis ins 13. Jahrhundert hinein ein Verwaltungsbegriff war und dem der terra entsprach; erst danach bekam er die Bedeutung "Heimat" in unserem modernen Sinne (J. HUIZINGA, 'Nationalism in Middle Ages' (1950), p. 17). Hier ist wiederum zu ergänzen, daß patria mit Bezug auf eine Hofstelle in früher Zeit auch „Heim“ meinte und damit den späteren Heimat-Begriff vorwegnahm. ... zurück zum Text




























© Andreas Kalckhoff, Version 9. März 1996