Andreas Kalckhoff
Nacio Scottorum.
Schottischer Regionalismus im Spätmittelalter.

Die Literaturangaben in den Anmerkungen sind Kurztitel; für den vollen Titel siehe Literaturverzeichnis.

Schluß: Wesen und Bedingung der Nacio Scottorum
1. Fortsetzung:
Weil das Nationalbewußtsein auf ethnische Merkmale, auf Staat, Dynastie, Verfassung und Territorium gerichtet ist, wird es gewöhnlich mit Patriotismus und Gentilismus verwechselt. "Volk" im nationalen Sinn unterscheidet sich jedoch von "Stamm" dadurch, daß im einen Fall das Bewußtsein ethnischer Gemeinsamkeit gruppenbildend wirkt, im anderen Fall das Bewußtsein genealogischen Zusammenhangs. Die unterschiedliche Wahrnehmung dessen, was zur Gemeinschaftsbildung führt, stimmt mit dem unterschiedlichen Handeln in Stamm und Volk überein: Einmal gleicht das politische Handeln dem Verhalten in der Familie und beruht auf unmittelbaren, persönlichen Beziehungen; das andermal folgt es dem Verhalten im (vaterländischen) Staat und beruht auf vermittelten, institutionellen Beziehungen, doch im Unterschied zum Vaterland ist dabei nicht die Mitwirkung und Repräsentation Gleichgesinnter zur Verwirklichung sachlicher Interessen wesentlich, sondern die Zusammenwirkung und Entwicklung Gleichartiger zur Erfüllung eines geschichtlichen Auftrages oder Gesetzes.
Der "dynastische Nationalismus" etwa, der die Donaumonarchie stützte, nahm nicht Partei für das Herrschaftsrecht der Habsburger, sondern sah in dem "angestammten Herrscherhaus" die Verkörperung einer historisch begründeten Kulturgemeinschaft mit zivilisatorischer Mission. Dem "politischen Nationalismus", der sich nach Vorstellung der DDR-Führung auf die sozialistische Gesellschaftsform richten soll, geht es nicht um eine politische Gemeinschaft, die aus dem Willen und den Interessen ihrer Mitglieder wächst, sondern um einen Staat, der die Gesetze des Historischen Materialismus einlöst. Der "religiöse Nationalismus", der von einer "islamischen Nation" spricht, versteht die Glaubensgemeinschaft - jedenfalls im Denken der westlich erzogenen islamischen Politiker - nicht mehr als Ökumene, die den gemeinsamen Kulthandlungen Frieden gibt, sondern als politische Gemeinschaft, deren Heil in Gleichgläubigkeit und Rechtgläubigkeit liegt. Dynastische Herrschaft, Gesellschaftsverfassung und religiöser Glaube erscheinen hier nicht als Akzidenzien des Gemeinschaftslebens oder als Willensäußerung einer Großgruppe, sondern als Unterpfand ihrer Lebensfähigkeit, Entwicklungsmöglichkeit und Zukunftschance.
Nun nannte man im 13. und 14. Jahrhundert Sprachunterschiede durchaus beim Namen und wies auch auf sie hin, wenn es um die Unterscheidung zwischen Freund und Feind ging. Eduard I. etwa machte Stimmung gegen "die Verbrecher walisischer Sprache, die Engländer ermordet haben" 8). Während des Wat Tyler-Aufstandes 1381 kam es in London zum Pogrom an den verhaßten flämischen Kaufleuten und Handwerkern, dem all diejenigen zum Opfer fielen, die nicht auf gut Englisch bread and cheese sagen konnten, sondern nur brod und case 9). Die schottischen Hochländer hießen bei den Engländern, aber auch im eigenen Land "Irische" und nannten sich selbst Gaidhealtachd, "Gälischsprechende", im Unterschied zu den Sasunnach, den "Englischsprechenden".
Mit Nationalbewußtsein hatte dies indes nichts zu tun, solange man nicht daran dachte, Sprachgemeinsamkeit als Grund für gemeinsames politisches Handeln zu nehmen, und in der Sprache auch kein Zeichen kultureller Eigenart sah. Wir beobachten jedoch in der schottischen Propaganda, jedenfalls von Seiten der königlichen Kanzlei, in der Tat einen ethnischen Nationalismus: Die nacio Scottorum wird hier als "eigener Stamm" mit eigenem Recht, eigener Sprache, eigenen Sitten und eigenem Wohnsitz vorgestellt und damit von den "Britonen" abgesetzt; anderseits beschwor man die "gemeinsame Sprache", das "gemeinsame Recht" und die Geburt aus dem "Samen einer Nation" von Iren und Schotten zum Zweck eines Bündnisses. Folgerte man dabei auch nicht aus ethnischer Gemeinsamkeit das Bedürfnis staatlicher Einheit, so leitete man immerhin aus ethnischen Unterschieden das Recht auf getrennte Staatlichkeit ab.
Nun wird gerade am schottischen Beispiel deutlich, was das Nationalbewußtsein ausmacht. Schottland war weder in Recht und Sitte, noch in Sprache und Abstammung einheitlich, und gerade die eifrigsten Vorkämpfer der schottischen Freiheit unterschieden sich ethnisch nicht vom Nachbarn. Die Hälfte des Landes sprach nicht Gälisch, sondern Angelsächsisch wie der Feind, und dieser wiederum kannte nurmehr in Rückzugsgebieten das Britonische. Doch darauf kam es offensichtlich nicht an. Von der Stammesgesellschaft war - jedenfalls bei denen, die schon als Nation dachten - nichts geblieben als die Erinnerung an die Selbstverständlichkeit ethnischer Einheit und Eigenheit. So wie man sich den Stamm nur als große Familie vorstellen konnte, sah man jetzt in der Nation einen Stamm; und wie es für den Stamm wenig Bedeutung hatte, ob er wirklich eine Abstammungsgemeinschaft und nicht vielmehr aus Gefolgschaften, Kriegsgefangenen, Asylanten, Sklaven und Söldnern gebildet war, blieb es jetzt ohne Belang, wenn die Nation in mehreren Sprachen sprach und verschiedenen Rechtsgewohnheiten anhing.
Dies wird noch deutlicher, wenn wir uns die weitere Entwicklung vergegenwärtigen. Die Erklärung von Arbroath 1320 hatte gälische Schotten gegen britonische Engländer gesetzt. Auf schottischer Seite sprach dafür das "altschottische Revival", das unter anderem gälische und piktische Vornamen wieder in Mode gebracht hatte; mit Blick auf England wirkte es jedoch absurd, denn dort erfuhr nicht das Britonische eine Wiederbelebung, sondern das Angelsächsische, wie sich etwa im Namen Eduards I. zeigt, der an den letzten angelsächsischen König, Eduard den Bekenner, erinnerte. Zur Zeit, als der Wallace-Mythos blühte, mochte man dann in Schottland vom Gälentum schon nichts mehr wissen. Während nämlich das Angelsächsische tatsächlich eine Wiedergeburt erlebte und Französisch verdrängte (oder vielmehr aufsog), zog sich das Gälische vor dem angelsächsischen Scots weiter zurück und geriet zur Sprache einer verachteten und gehaßten Minderheit. Die Wallace-Legende geht indes auf diese Wirklichkeit nicht ein: Die englischen Feinde werden in den angelsächsischen Versen des Blind Harry als "Sachsen" beschimpft, die aber gar nicht sächsisch sprechen, sondern französisch - wie die eigene Oberschicht.
William Burns vermutet denn auch, daß der Begriff "Sachse" keine ethnische Qualifizierung vornahm, sondern einfach "Fremder" bedeutete, ähnlich dem gälischen Wort gall, das Dänen und Angelsachsen ansprach 10). Dies ist nicht schlecht gedacht, geht aber am wesentlichen vorbei. Gall heißt wirklich "Fremder" und enthält keinerlei Hinweis auf ethnische Merkmale; in Irland bezog man den Begriff auch auf die gälo-schottischen Söldner, die gall-oglach (anglisiert: gallowglass), was wörtlich "fremde Jünglinge" heißt. Gall nimmt also eine ethnozentrische Abgrenzung vor, wie sie für Stammesgesellschaften typisch ist. Saxon, "Sachse", war dagegen nicht jeder Fremde, sondern nur der verhaßte Nachbar; und dem schrieb man durchaus sprachlich-ethnische Qualitäten ("Britone", "französisch") zu, die zwar unwirklich waren, aber dennoch eine völkische Abgrenzung vornahmen.
Trotzdem ist fraglich, ob wirklich Sprache und Sitte ausmachten, was man sich unter "Schotte" und "Engländer" vorstellte; schließlich wurde die Unsitte des Französischsprechens ja nicht nur den "Sachsen", sondern auch dem heimischen Adel zugeschrieben. Auch daß man den eigenen angelsächsischen Dialekt als Scots vom Idiom des Nachbarn absetzte, hatte offensichtlich keine Weiterungen. Einer anonymen Streitschrift um 1549 nach (The Complaynt of Scotland) ist es jedenfalls nicht die Sprache, was Engländer und Schotten trennt: "Es gibt nicht zwei Nationen unter dem Himmel, die gegensätzlicher und verschiedener sind als Engländer und Schotten, obwohl sie zusammen auf einer Insel leben, Nachbarn sind und die gleiche Sprache sprechen. Denn Engländer sind hinterlistig, und Schotten sind ehrlich. Engländer sind hochmütig im Glück, und Schotten sind bescheiden im Glück... Es ist unmöglich, daß Schotten und Engländer in Eintracht unter einem Herrscher und einem Fürsten bleiben können, denn ihre Naturen und Eigenschaften sind so verschieden wie die Natur von Schaf und Wolf 11).
Völkische Merkmale (gemeinsame Sprache, gemeinsamer Wohnsitz) werden hier ausdrücklich von der nationalen Bestimmung - und darum handelt es sich eindeutig - ausgenommen. Angesichts der Sachlage blieb auch nicht viel anderes übrig; auf ethnische Spekulationen wie im 14. Jahrhundert (und dann noch einmal im 20. Jahrhundert) ließ sich die Renaissance nicht ein. Man zitierte lieber, um Eigenart zu demonstrieren und damit Eigenleben zu behaupten, was sich der Nachprüfung entzieht: den "Nationalcharakter". Davon wissen die Schotten zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges freilich noch nichts. Wenn nun aber, wie wir annehmen können, auch damals schon ethnische Argumente wenig zählten, was war dann mit Scottus gemeint?
In den Briefen und Pamphleten der königlichen Kanzlei werden die Schotten nicht nur als Ethnos beschrieben, sondern auch als Demos (populus) - als politischer Verband, begabt mit Geschichte und politischem Willen. Dies entspricht teilweise unserem Bild vom Bürger und Patrioten: jemandem, der in Schottland seine Heimat hat, die er nachbarschaftlich verteidigt, und Institutionen, in denen er mitwirkt. Nun lebt die Vorstellung vom Vaterland aber auch in jener Variante des Nationalismus, derzufolge die Nation "in einer tagtäglichen Volksabstimmung" besteht 12). Diese "Staatsnation" hat jedoch in Wirklichkeit mit Vaterland nicht mehr zu tun als "Volk" mit Stamm; denn entgegen der Idee gehört man ihr nicht aus freiem Willen und im eigenen Interesse an, sondern in der Eigenschaft des "Staatsangehörigen". Man kann sich ihr zwar durch Auswanderung oder Flucht entziehen, doch der Nationalitätenwechsel bedeutet nur, daß man danach einem anderen Staat gehört.
Die Theorie der Staatsnation legt denn auch auf den Einzelwillen wenig Wert: Dieser habe sich vielmehr dem volonté général, dem nationalen Gemeinschaftswillen zu unterwerfen, wie Rousseau lehrt. Dazu ist die nationale Propaganda da, die dem Einzelnen vorführt, daß er als Teil einer Anzahl Gleichartiger einem höheren Ziel dient, das sein eigenes Wollen und privates Interesse übersteigt - daß die Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft aber auch eine besondere Zukunftschance verheißt. Die Möglichkeit der Mitwirkung in der Staatsnation ergibt sich dementsprechend nicht aus der Nationalität, sondern hängt von der jeweiligen Staatsverfassung ab; in der Diskussion um das Ausländerwahlrecht wird dies ebenso deutlich wie im Umstand, daß Straffälligen das Wahlrecht aberkannt werden kann.
Offensichtlich wurde der beginnende schottische Nationalismus - jenseits der fiktiven völkischen Begründung - im wesentlichen von dieser staatlichen Komponente bestimmt, die je mehr zum Tragen kam, je mehr sich der Staat entwickelte und das Gälentum politisch und kulturell ins Hintertreffen geriet. Heute jedenfalls bilden die Schotten eine Staatsnation und dies, obwohl sie seit 1707 keinen eigenen Staat mehr haben und trotz des "keltischen Mythos", der später in Literatenzirkeln Mode wurde: Die Erinnerung an Schottland als historisches Land - nicht als völkische Gemeinschaft - begründete das moderne Nationalbewußtsein. Schotte sein heißt für den Nationalisten, ein Recht auf Selbstregierung haben, weil man einem Gemeinwesen angehört, für dessen Unabhängigkeit schon William Wallace und Robert the Bruce kämpften.
Dabei dürfen wir aber eines nicht übersehen: So wie teilweise noch Stammesbewußtsein die Gesellschaftsgrundlage bildete und die Abwehr des englischen Angriffs begründete, gab es neben dem schottischen Regionalismus auch noch ein schottisches Reichsbewußtsein. Unter "Reich" verstehen wir eine Großgruppe, die keine Begrenzung kennt, sondern im Idealfall die gesamte bewohnte oder zivilisierte Welt, die Ökumene, umfaßt. Im Gegensatz zu Stamm, Vaterland und Nation sieht der Reichsgedanke den Schlüssel zu Wohlfahrt und Frieden der Gesellschaft nicht in der regionalen Beschränkung und Abgrenzung, sondern in imperialer Entgrenzung und Einverleibung. Dabei nahm die Reichsidee eine ähnliche Entwicklung wie der Regionalismus - von den frühen "Weltreichen" Mesopotamiens und Chinas bis zu den modernen "Imperien" der Amerikaner, Russen und Europäer; dies auszuführen ist hier leider nicht der Platz 14).
Die mittelalterlichen Reiche sahen sich in der Nachfolge des Römischen Reiches, zuerst das karolingische und dann vor allem das deutsche. Aber auch England und Frankreich erhoben imperiale ("ökumenische") Ansprüche, und wenn sie diese nicht gegen das Deutsche Reich durchsetzen konnten, so wenigstens gegenüber den Stämmen und Landschaften ihres eigenen Machtbereiches. "Der Fürst ist in seinem Reich Kaiser", hieß es in England. Die Normannen, die 1066 das Angelsachsenreich eroberten, und ihre Nachfolger, die Plantagenets aus Anjou, suchten dieses Reich systematisch zu erweitern: Schottland, Irland, Wales und schließlich Frankreich waren dabei ihre Ziele. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht beherrschten sie in einem Falle die britischen Inseln und Irland, das andermal England, Irland, Wales und halb Frankreich. Mit den Stammesgesellschaften in Irland und Wales hatten sie relativ leichtes Spiel; Schottland und Frankreich wehrten sich dagegen erfolgreich - in Kriegen, die sechzig und hundert Jahre dauerten. (Die Reichsträume der Plantagenets scheiterten aber nicht zuletzt an England selbst: am Patriotismus und Nationalismus der "Englischen", die ihr Land zunehmend gegen die Entgrenzungsversuche der Könige verwahrten.)
Auch Schottland bildete, bevor es zum Vaterland wurde, ein Reich. Die MacAlpins hatten ihm zu den piktischen und skotischen Stämmen britonische, skandinavische und angelsächsische Stämme und Provinzen einverleibt; erst Mitte des 13. Jahrhunderts war die Reichsbildung abgeschlossen. Noch unter König Robert beobachten wir ökumenistische Tendenzen: in der Irland- und Nordenglandpolitik, die durchaus "imperiale" Züge trägt. Allerdings scheint weniger der König (oder die königliche Kanzlei) dahinterzustehen als vielmehr der Adel, dem grundsätzlich weniger nach Verteidigung eines Vaterlands als nach Eroberung eines Nachbarlandes war; das schottische Königtum ging am Ende den regionalistischen Weg der Abgrenzung und des Rückzugs.
Anderseits fügten sich jene Teile, die als letzte dem Reich verbunden worden waren, obwohl schon einmal dazugehörig, dem schottischen Gemeinwesen nicht mehr ein. Die Stämme im Westen, die Schottland noch als Reich dachten, dessen Macht man auf die Probe stellen konnte, sahen sich unvermutet einem status, einer communitas gegenüber, für die Auflehnung schon Verrat war. Indem sie sich aber vom Vaterland, von der werdenden Nation absonderten, wurden sie schließlich Opfer der Reichsidee - nun in Gestalt eines "inneren" Kolonialismus, der Kehrseite des Nationalismus.
Es gab also im spätmittelalterlichen Schottland Regionalismus in allen seinen Varianten - Gentilismus, Patriotismus und Nationalismus - und dazu Reste von Reichsbewußtsein (Ökumenismus). Der Gegensatz von Reichsbewußtsein und dem, was man für Patriotismus oder Nationalismus hielt, fand in der Literatur durchaus Beachtung, und man hat auch die Gleichzeitigkeit und Konkurrenz dieser Gruppengefühle beschrieben. Dabei sah man in Patriotismus und Nationalismus das moderne Verhalten, im Reichsgedanken die absterbende Idee; daß der Ökumenismus sich im Kolonialismus und Imperialismus fortsetzte, wenn auch auf "höherer" gesellschaftlicher Entwicklungsebene, wurde nicht wahrgenommen. (Man hielt diese Erscheinungen für Auswüchse des Nationalismus, weil Nationen ihre Träger waren.) Man unterschied aber vor allem nicht mit der nötigen Klarheit zwischen Stammesbewußtsein, Patriotismus und Nationalismus. Diese Begriffsverwirrung erklärt sich teilweise daraus, daß die verschiedenen Formen des Regionalismus vielfach nebeneinander auftreten - wie im Falle Schottlands. Schwerwiegender war, daß man sie nicht als vorübergehende ("historische") Erscheinungen begriff, die mit dem Gesellschaftswandel verbunden sind, sondern als Norm, die sich in der Geschichte erfüllt.
Wir haben aber auch gesehen, daß der schottische Regionalismus im wesentlichen patriotisch gefärbt war. Die nacio Scottorum stellt sich demnach als Vaterland dar, jedenfalls in der Wahrnehmung und im Handeln derer, die seinen status und seine regia dignitas verteidigten. Die Ansätze eines Nationalbewußtseins weisen ihrer Wirkung nach eher in die Zukunft, als daß sie die Zeitereignisse erklärten. Der Übergang vom Stammesverband zu Vaterland und Nation ist dabei durch einen Verhaltenswandel gekennzeichnet, der neue gesellschaftliche Rollen schuf: Der Hausgenosse und Stammesbruder entwickelte sich zum Nachbarn und Mitbürger, zum Volksgenossen und Staatsangehörigen.
Was aber war geschehen, daß für viele Angelsachsen, Anglofranzosen, Flamen und Gälen in Schottland die nacio wichtiger wurde als der heimische Clan, die Grafschaft, das Tal, die Stadt, der Lehensverband? Wie kam es, daß sie ihren politischen Willen, ihr wirtschaftliches Interesse und ihre kulturellen Neigungen nun bevorzugt im Handlungsfeld Schottland und unter den Bedingungen nachbarschaftlicher und "bürgerlicher" Institutionen zu verwirklichen suchten?
Man hat das Aufkommen von Patriotismus und Nationalismus drei Erscheinungen zugeschrieben: der Entstehung des Staates, der gesellschaftlichen Integration und der Ausbildung einer Volkskultur. Dies entspricht in gewisser Weise den Veränderungen, die wir an Schottland in den Bereichen Politik, Ökonomie und Kultur beobachtet haben. Ob die Menschen durch sie zu einem neuen Verhalten gezwungen wurden oder ob nicht vielmehr verändertes Verhalten eine neue Gesellschaft hervorbrachte, ist dabei nicht zu entscheiden. Immerhin können wir zeigen, daß zwischen Gesellschaftsstruktur, sozialem Rollenverhalten und kultureller Wahrnehmung ein Zusammenhang besteht, der Erscheinungen wie Patriotismus und Nationalismus erklärlich macht.
Der Staat, seit dem 13. Jahrhundert auch begrifflich im Entstehen, ist eng verbunden mit der Versachlichung der Herrschaft, die schon das Feudalwesen verwandelt hatte; seine wesentlichen Merkmale sind Veröffentlichung, Territorialisierung und Verallgemeinerung der Herrschaft. "Veröffentlichung" heißt, daß die Rechtsautorität - und damit das Recht auf Herrschaft und Gewaltausübung - von der (Einzel-) Person auf das Gemeinwesen übergeht. Ausdruck dieser Entwicklung ist der Landfriede (pax communis, pax generalis, pax terrae), der das Fehderecht beschnitt, den herrscherlichen "Sonderfrieden" (Königsfriede, Herzogsfriede, Bischofsfriede) allgemein machte und als "Gesetzesfriede" auf das Land (Territorium, Reich) übertrug. In Frankreich wurde der "ewige Landfriede" 1413, in Deutschland 1495 institutionalisiert.
Die Landfriedensbewegung hing aber eng mit der "Territorialisierung" der Herrschaft zusammen. Grundlage für den "gesetzten" (gesetzlichen) Sonderfrieden war nämlich der fürstliche Gerichtsbezirk, und aus ihm entstand die Territorialherrschaft. Die Fürsten trachteten nämlich danach, ihre Lehensherrschaft auf dem Boden ihrer Gerichtshoheit zu arrondieren, also ein Territorium ("Land") zu schaffen, das den Gegebenheiten ihrer Domäne entsprach, auf der alle, die ihnen zu Diensten und Abgaben verpflichtet waren, auch ihrem "Bann" und "Gesetz" unterstanden. Dieser Zentralisierung der Herrschaft von Fürstenseite, die fremde Lehensherrschaft in einem Gerichtsbezirk ausschloß, entsprach auf der anderen Seite die landständische Einung, zu der sich die "Untertanen" eines fürstlichen Gerichts - Grafen, Ritter, Prälaten, Städte, teilweise auch Bauern - als Repräsentanten des "Landes" zusammentaten.
Vielfach ging das Ständeparlament aus der Lehensversammlung hervor; jedenfalls scheinbar, denn man sollte besser sagen: Die Lehensversammlung ging in der Ständeversammlung auf. Kennzeichnend für das neue Parlament war nämlich, daß nicht mehr nur ein Stand kam - die ebenbürtigen Grafen, Barone oder Freiherrn und die ranggleichen Prälaten als Getreue ihres Fürsten -, sondern verschiedene Geburtsstände nach ihrer Zugehörigkeit zum Land. Dies hatte zwei Folgen: Zum einen erweiterte sich der Kreis derer, die an der Fürstenherrschaft mitwirkten - damit haben wir die "Verallgemeinerung der Herrschaft" - , zum anderen wurde die Ständepyramide zu einem (politischen) Nebeneinander von Herrschaftsträgern eingeebnet, die sich im gemeinsamen Interesse an der fürstlichen Zentralherrschaft ausrichteten - je nach Lage als Widerpart oder Vormund des Fürsten. Nicht zufällig hießen diese Stände im niederländischen und französischen Bereich "Staaten" (staten, états): Sie verkörperten, anders als der von dynastischen Wechselfällen abhängige "Fürstenstaat", die Beständigkeit des Landes, aus dem der moderne Staat hervorging.
Fortsetzung ...



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© Andreas Kalckhoff, Version März 2001




































Anmerkungen

8) G. W. S. BARROW, 'Robert Bruce', 1965, pp. 348 f. ... zurück zum Text
9) E. LIPSON, 'Economic History', 1915, p. 533. Die Animosität zwischen Flamen und Engländern ist auch schon für die Zelt des Unabhängigkeitskrieges belegt. So kam es vor dem Weardale-Feldzug anläßlich eines Festes, das die englische Regentin in York gab, zu tödlich endenden Auseinandersetzungen zwischen englischen Truppenteilen und den Hennegauer Hilfstruppen (A. M. MACKENZIE, 'Robert Bruce' (1934), p. 332). ... zurück zum Text
10) W. BURNS, 'Scottish War of Independence', 1875, p. 403. ... zurück zum Text
11) There is nocht tua nations vndir the firnament that ar mair contrar and different fra vnthirs nor is Inglismen and Scottismen, guhoubeit that thai be within ane ale and nychtbours and of ane langage. For Inglismen ar subtil and Scottismen ar facil. Inglismen ar ambitius in prosperit and Scottismen ar humain in prosperite ... It is onpossibil that Scottismen and Inglismen can remane in concord vndir ane monarche and ane prince, because there naturis and conditions ar as indefferent as is the nature of scheip and woluis. (G. W. PRYDE, 'Development of Nationalism in Scotland', 1935, p. 265) ... zurück zum Text
12) L'existence d'un nation est un plébiscite de tous les jours (E. RENAN, 'Qu'est-ce que la nation?' 1882, p. 27). ... zurück zum Text
14) Nur soviel sei angedeutet. Stammesbewußtsein (Gentilismus), Vaterlandsliebe (Patriotismus) und Nationalgefühl (Nationalismus), die bisherigen historischen Formen des Regionalismus, entsprechen unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Organisation Wenn es nun ebenso wie Regionalismus, auch schon immer Ökumenismus gab - die Tendenz Reiche zu bilden -, liegt auf der Hand daß es auch hier den unterschiedlichen Gesellschaftszuständen gemäß unterschiedliche Formen gab. Zweifellos hatten die "Weltreiche" des Altertums einen anderen Charakter als die mittelalterlichen Reiche und die neuzeitlichen Kolonialreiche. Und so wie fraglich ist, ob der heutige Regionalismus noch als herkömmlicher Nationalismus anzusprechen ist, gibt es wohl auch einen Unterschied zwischen den Imperien der 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den heutigen "Blockbildungen" unter Führung der Amerikaner und Russen oder in Gestalt der Europäischen Gemeinschaft. - Die altertümlichen Reiche, etwa das Hochkönigtum der Iren und das Frankenreich, setzten sich aus Stämmen und/ oder Provinzen zusammen, die relativ autonom waren und zur Reichsführung über ihre Stammes- und Provinzführer ein Verhältnis persönlicher Abhängigkeit hatten, dargestellt durch Tributleistungen und Heeresfolge. Die Reichsführung hatte dabei ein Stamm, eine Provinz, eine Stadt inne, die natürlich wiederum personal repräsentiert waren. Ziel der Reichsbildung war ein umfassender Friede.- in der Folgezeit begegnen uns, in Europa seit dem Hochmittelalter, Reiche, die aus Landschaften und Körperschaften zusammengesetzt waren, die - im Rahmen der Feudalordnung - durch sachliche Beziehungen an das Königtum gebunden waren. Nicht mehr persönliche Beziehungen zwischen König und Stammeshäuptlingen u. ä. begründete jetzt das Reich, sondern die Beziehung einer "Krone" zu einer Körperschaft von Lehensleuten, vertreten in Reichsrat und Parlament. Ziel mittelalterlicher Reichsbildungen war ebenfalls der Friede, darüberhinaus jedoch die Verbreitung des rechten Glaubens - im weiteren Sinne also eines "Rechts" der gesellschaftliches Heil verbürgte. - Die neuzeitlichen Reiche, imperiale Kaiserreiche und/ oder imperialistische Kolonialreiche, hatten dagegen den Charakter meist multinationaler Staaten, die mit dem Erwerb von Kolonien zugleich eine wirtschaftliche und eine zivilisatorische Zielsetzung hatten; Rohstoffgewinnung, wirtschaftliche Erschließung, Zivilisierung "primitiver" Völkerschaften mittels zentralstaatlicher Methoden sollten Glück und Fortschritt der Menschheit - und insbesondere des "Reichsvolks", der führenden Nation befördern. ... zurück zum Text




























© Andreas Kalckhoff, Version 9. März 1996