Andreas Kalckhoff
Nacio Scottorum.
Schottischer Regionalismus im Spätmittelalter.

Die Literaturangaben in den Anmerkungen sind Kurztitel; für den vollen Titel siehe Literaturverzeichnis.

Schluß: Wesen und Bedingung der Nacio Scottorum
2. Fortsetzung:
Ein weiteres Merkmal des Staates ist seine herrschaftliche Einflußnahme auf die Wirtschaft, gegebenenfalls auch seine Beteiligung darin. Nachdem die Domäne nicht mehr genug hergab, um die steigenden "Staatsausgaben" - überwiegend für Kriege - zu decken, verlegten sich die Fürsten auf den Fiskus und füllten ihre Kassen aus Zöllen und Monopolen. Da man die Kuh, die man melken will, auch füttern muß, dienten sie der bürgerlichen Wirtschaft, vornehmlich dem gewinnträchtigen Fernhandel, mit ihrem Schutz, etwa im Markt- und Messewesen, manipulierten sie aber auch durch Privilegienvergabe, Stapelzwang, Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen. Im besten Falle kam dabei eine "nationale" Wirtschaftspolitik heraus, im schlimmsten Falle ein tributäres Abschöpfungssystem. Wurde auf diese Weise "die Wirtschaft dem Fiskus geopfert", wie Henri Pirenne sagte, unterwarf man sie anderseits auch der Politik, etwa durch Boykotte, Blockaden und Kaperkrieg.
Dagegen versuchten die Kaufleute, sich entweder dem "staatlichen" Druck durch Städtebünde (Hanse) und "multinationale" Firmengründungen zu entziehen oder aber über die Mitwirkung im Ständeparlament ihrerseits Druck auf die Fürsten auszuüben. Voraussetzung dafür war der neue Reichtum und damit der Machtzuwachs des Handelsbürgertums. Dieser hatte freilich die staatliche Entwicklung erst in Gang gebracht, wenn auch nicht allein: Die Kaufleute bildeten nur die Spitze eines Eisbergs nicht-feudaler Produzenten, die mit ihrer Wirtschaft die Gesellschaft veränderten, und im wesentlichen handelte es sich dabei um Handwerker und Bauern. Zweifellos nahm der Wandel seinen Ausgang von den Städten, doch ohne die soziale Umwälzung auf dem flachen Lande hätte er nicht weitergeführt. Das Neue war die Entstehung von Märkten, auf denen Überschüsse einer zunehmend arbeitsteiligen Produktion getauscht wurden.
In diesen Markt wurde auch der Adel einbezogen: Entweder trat er ganz in den städtischen Rechts- und Wirtschaftskreis ein und wurde damit zum "Bürger"; oder er beteiligte sich über Agenten und Makler am Handel und ließ seine Güter nach Gutsherrenweise bewirtschaften, um selbst Überschüsse - statt wie bisher nur den Unterhalt - zu erzielen. Wo er dies nicht tat, kam er zum "armen Ritter" herunter oder rettete sich in die Existenz des "Bastard-Feudalismus", der bis ins 16. Jahrhundert Markt und Staat entgegenstand. Marktbildung gab es aber auch im politischen Bereich: Auch hier fanden Adel, Bürger und Bauern zusammen, namentlich im Parlament, der spätmittelalterlichen Agorá. Die Integration der Gesellschaft geschah also zu den Bedingungen neuer politischer und ökonomischer Handlungsformen, die von Handwerkern, Kaufleuten und Bauern hervorgebracht worden waren. Sie bezog sich auf das Reichsvolk und beruhte auf beruflicher Arbeitsteilung, im Gegensatz zur "natürlichen" Arbeitsteilung nach Alter, Geschlecht und Würde, wie sie das Stammesleben kennt.
Dies gilt auch für die kulturelle Integration, die sich in der Volkssprache vollzog. Gewiß: Die ersten nicht-lateinischen Dichtungen in Europa waren für ein adeliges Publikum bestimmt und wurden von Rittern geschrieben. Auch die Säkularisierung der Bildung, die Entstehung "ziviler" (anstelle rein klerikaler) Verwaltungen, die Tätigkeit weltlicher Mäzenaten nahm ihren Ausgang vom Adel, allerdings im wesentlichen von jener neuen Schicht, die gerade erst aus der unfreien Dienstmannschaft ("Ministerialität") über Militär und Verwaltung zu adeliger Freiheit auf gestiegen war. Sie hatte ihre Stellung durch Dienst errungen, so wie Bauern und Handwerker durch Arbeit frei und reich wurden, und darin waren sie diesen verwandt: Dienst und Arbeit galten bisher als verpönt, nun wurden sie zu Eckpfeilern eines berufständischen Ethos.
Dies schlug sich dann in Wirtschaftstheorien nieder, die Wohlstand für eine Voraussetzung der Tugend hielten, demnach Seelenheil und Gemeinwohl aufeinander bezogen und schließlich den Kommerz als unentbehrlich für das Gedeihen des Vaterlandes (divis patria) ansahen; J. F. McGovern spricht in diesem Zusammenhang von "ökonomischem Humanismus" und "ökonomischem Nationalismus" 15). Für Handel und Gewerbe war dabei wichtig, daß man den Zins - dem neutestamentlichen Verständnis nach ein Geschäft ehrloser Wucherer - jetzt als Buße für Zahlungsverzug und sogar schon als Risikoprämie rechtfertigte. Gegenüber der marktorientierten, arbeitsintensiven und gegebenenfalls kapitalnutzenden Aktivität des neuen homo oeconomicus erschien jedenfalls die konsumorientierte Aneignung und Ausbeutung der aristokratischen "Nichtstuer" zunehmend zweifelhaft. Whanne Adam dalfe und Eve span, who was thanne a gentil man? Mit dieser unerhörten Frage deutete der englische Bauernführer John Ball (1381) auch schon Konsequenzen für die ständische Stellung des Adels an.
Die "Verbürgerlichung" der Adelsgesellschaft war jedoch nur die eine Seite der kulturellen Integration; die Gegenbewegung der Aristokratisierung bürgerlicher und bäuerlicher Schichten führte gleichermaßen zur "Volkskultur". Die "bürgerliche" (bourgeoise) Mentalität leitet gesellschaftliches Ansehen - und damit ein Recht auf Herrschaftsteilhabe - von wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Nützlichkeit ab; demgegenüber sieht sich der Aristokrat durch seinen vorgegebenen gesellschaftlichen Rang - auf Grund von Geburt und persönlichen Beziehungen - zu Herrschaft und damit zur Aneignung wirtschaftlicher Vorteile berechtigt. Nun beobachten wir aber überall dort, wo Kaufleute und Handwerker - auch Bauern - zur Herrschaft kommen, eine Aristokratisierung des politischen und privaten Verhaltens. An ihrem Ende stand der Rückzug von Arbeit und Dienst in ein müßiges Rentnerdasein, dem bald die Nobilitierung folgte 16).
Wir haben in der unterschiedlichen Begründung dessen, was "Rang" ausmacht, noch einmal die Entgegensetzung der archaischen Familien- und Stammesstruktur, in der Geburt und Personalbezug zählen, und der neuen sachbezogenen Ordnung, die nach Funktion und Nutzen der Person wertet. Die Aristokratisierung bürgerlicher und bäuerlicher Schichten, die Durchmischung sachlicher (kaufmännischer, zünftischer, landwirtschaftlicher) Interessen mit personalen Motiven 17) macht deutlich, daß die "Moderne" noch an ihrem Anfang stand. Dies gilt ebenso für Erscheinungen wie "Staat" und "Markt". Wir können deshalb nicht erwarten, in Schottland die Bedingungen des Patriotismus und Nationalismus voll entfaltet zu finden.
In Schottland hatte sich, wenigstens zum Teil, ein Gemeinwesen gebildet, das den mittelalterlichen Personalverband überschritt. Es gab einen "Staat", der einerseits vom Königtum, anderseits von den Ständen - Adel, Klerus, bäuerliche Landbesitzer - dargestellt wurde. Die feudalen Beziehungen verloren vielerorts ihren personalen Charakter und verwandelten sich in sachliche Abhängigkeiten auf der Grundlage von Land und Rente oder - auf der Lehensebene - Steuer (scutagium, "Schildgeld"). Die Qualität der schottischen Gesellschaft als communitas und status trat nicht zuletzt nach außen hin in Erscheinung: in der Propaganda von "Friede" und "Freiheit" beobachten wir den Reflex der Landfriedensbewegung und der (ständischen) Volkssouveränitätslehre; in der feudalen Entflechtung Schottlands und Englands begegnet uns die Territorialisierung der königlichen Herrschaft.
Auf gesellschaftlicher Ebene war in Schottland ein Markt entstanden, der die soziale und regionale Segmentation des frühen Feudalismus vielfach überwand. Bürger und Bauern, Adelige und Gemeine, Hochländer und Tiefländer kamen auf ihm zu wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Handel zusammen - auf Märkten und Messen, bei Parlament und Kriegsrat, in Dichtung und Predigt. Wir nennen dies Integration und verstehen darunter einen Austausch und Wettbewerb, dessen Intensität sich nach der Häufigkeit der Begegnungen und dem Umsatz der Waren, Taten und Gedanken bemißt. Voraussetzung ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung, und deshalb bedeutet Integration auch nicht Vereinheitlichung, sondern Vervielfältigung von Interessen und Fertigkeiten. Eine Ganzheit kommt dabei nur insofern zustande, als sich die (Markt-) Teilnehmer bevorzugt aufeinander beziehen und voneinander abhängig sind; Konflikte schließt dies keineswegs aus 18).
So vertraten denn jene Schichten und Stände, die sich im Kampf gegen England zusammentaten, durchaus unterschiedliche und teilweise gegenläufige Interessen. Wenn es dem Adel um Bewahrung und Ausbau seiner Herrschaft ging, sorgten sich die Bauern um ihren Wohlstand, der durch den Überseedienst unter englischer Fahne bedroht war, und die Wollhändler fürchteten die Schmälerung ihrer Profite. Der Adel stritt auch untereinander heftig um Machtanteile und ging gleichzeitig, so er konnte, gegen den politischen Mitbestimmungswillen des Mittelstandes vor; auf der anderen Seite setzten Bauern, Städter und Ritter nicht nur dem äußeren Feind, sondern auch der eigenen Oberschicht mit ihrem Bandenkrieg zu. Auch die Städte rivalisierten untereinander; gleichzeitig suchten sie das flache Land auszubeuten.
Die Kontrahenten waren dabei aber sichtlich aufeinander angewiesen - nicht als flüchtige Bündnispartner, wie das im Verhältnis westlicher Clanchefs und schottischer Könige vorkommen mochte, sondern im Zusammenhang einer politischen und wirtschaftlichen Arbeitsteilung, in der einer nichts ohne den anderen ausrichtete. Typisch für die Organisation dieser Marktgesellschaft waren "Volkskrieg" und "Aufruhr", in denen unterschiedliche und konkurrierende Sachinteressen im Zusammenwirken eine gemeinsame Richtung fanden - manchmal nur kurzfristig, manchmal in zäher Beharrlichkeit. Diese Erscheinungen sprengten die feudale und erst recht die familiale Ordnung, die auf persönlicher Treue und vertraglicher Vereinbarung gründete; das Nebeneinander zweiseitiger Verpflichtungen wurde durch ein Netz vielseitiger Abhängigkeiten ersetzt.
Der Entstehung von Staat und Markt trat die Ausbildung einer Volkskultur zur Seite. Die ethnische Vielfalt schied weder Schichten und Stände noch Landschaften von einander, ebensowenig wie der Gegensatz von Feudalrecht und Gentilrecht: Die Reste altschottischer Tradition behaupteten sich, wenn auch mit Abstufungen, in Ober- und Unterschicht, in Hochland und Tiefland. In weiten Teilen Schottlands hatte sich gälische, sächsische, flämische und anglofranzösische Kultur auch vermischt, vor allem in den Städten. Als "Volkssprache" setzte sich das Angelsächsische durch; angelsächsisch waren jedenfalls die beiden "nationalen" Dichtungen, in denen Bürger und Bauern ihr Selbstbewußtsein fanden: Barbours Bruce und Blind Harrys Wallace 19). Daß in diese "Bürgerkultur" durchaus aristokratische Elemente eingingen, zeigt sich etwa daran, daß die Outlaws um William Wallace und Murray von Ettrick auf - wenn auch bärbeißige - Courtoisie halten und sich bei Gelegenheit sogar über das "unadelige" Verhalten ihrer adeligen Widersacher beschweren.
Schottland befand sich demnach auf dem Wege in eine moderne Gesellschaft. Das wesentliche Merkmal dieser Entwicklung war die politische, wirtschaftliche und kulturelle Integration des Gemeinwesens. Diese ging aber vom Mittelstand aus, von den Landedelleuten, Bauern und Städtern, die wiederum zum erheblichen Teil den Unabhängigkeitskrieg trugen. Insofern als der vaterländische Krieg mit dem politischen Auftreten von Bürgern und Bauern verbunden war, hatte er zweifellos etwas Umstürzendes an sich. Tatsächlich bekämpfte der "gemeine Mann" mit den äußeren Feinden nicht nur Eindringlinge, sondern auch Zwingherrn; umgekehrt griff er die Zwingherrn im eigenen Land als "nationale" Verräter an. Wenn dieser Zusammenhang auch nicht ausgesprochen wurde: Der Wirkung nach war der Patriotismus und Nationalismus der Unterschichten sicher revolutionär.
Wenn wir sagen, daß die nacio Scottorum - als Vaterland und beginnende Nation - Ergebnis gesellschaftlicher Integration war, heißt dies mehr als nur: Übertragung der Großgruppenloyalität von einer kleineren Einheit (Familie, Stamm) auf die größere der terre Descoce 20). Gewiß handelte es sich darum auch, doch die größere Einheit hätte auch ein Reich (Ökumene) sein können. Entscheidend ist, daß die beschriebene Integration einen neuen Gesellschaftstypus hervorbrachte (oder zumindest mit ihm korrespondierte) - ein Gemeinwesen, dessen Mitglieder sich als Nachbarn und Bürger, als Volksgenossen und Staatsangehörige verhielten. Dieses Gemeinwesen vermittelte eine neue Identität und zwar in vierfacher Weise: mit Hinsicht auf das veränderte soziale Rollenmuster, auf den veränderten Loyalitätsbezug, auf die veränderte Machtstruktur und auf den ethnisch-kulturellen Wandel.
Dabei ist unbedingt notwendig, diese vier Momente zusammenzusehen. Nachbarliches und bürgerliches Verhalten gab es auch schon in den Tälern, Gauen, Grafschaften und Städten; neu war seine Übertragung auf das Königreich, was durch die staatliche Entwicklung gefördert wurde. Neu war aber auch die soziale Machtverschiebung zugunsten des Mittelstandes und ebenso die kulturelle Verschiebung zugunsten der angelsächsischen Bevölkerung, die in den "entwickelten" Gebieten die Mehrheit hatte und somit zur patriotischen und nationalen Avantgarde bestimmt war. Zu sagen, Nationalismus diene der Identitätsbildung, stellt demnach Ursache und Wirkung auf den Kopf 21); in Wirklichkeit äußerte sich die neuformulierte Identität der Schotten in Patriotismus und Nationalismus.
Welche Auswirkungen hatte nun aber die gesellschaftliche Integration auf das Verhältnis zu England? Wir beobachten in Europa seit dem 13. Jahrhundert, daß sich "moderne" Gesellschaften, wie wir sie unter den Gesichtspunkten Staat, Markt und Volkskultur beschrieben haben, zunehmend der Fremdherrschaft verweigerten. Schottland ist hier kein Einzelfall; andere Beispiele sind Sizilien, Flandern und die Schweiz. "Fremdherrschaft" beinhaltet dabei bereits eine neuartige Vorstellung. Herrschaft konnte dem archaischen Verständnis nach nur gerecht oder ungerecht sein; ungerecht war sie, wenn sie "Freiheit" raubte, d. h. ein bestehendes (möglicherweise autochthones) Herrschaftsrecht aufhob oder minderte. Zweifellos sah der schottische Adel den Unabhängigkeitskrieg vor allem unter diesem Blickwinkel: Die regia dignitas betraf nicht zuletzt das eigene Herrenrecht, und den status regni verkörperte er in seinen Augen selbst.
Neu an den "Freiheitskämpfen" des 13. und 14. Jahrhunderts war indes die aktive Beteiligung des Mittelstandes. Die Ursache dazu finden wir in der zunehmenden politischen Mitverantwortung des "gemeinen Mannes": Auch er hatte nun eine "Freiheit" zu verlieren. So sind denn tatsächlich, wie Mackinnon hervorhebt, die Verträge, die Schottland im Zuge des Unabhängigkeitskrieges mit auswärtigen Mächten (insbesondere Frankreich) schloß, schon als "Volksverträge" anzusprechen: Wenn sie auch nicht vom "Volk" verhandelt wurden, so nahmen sie doch mehr Rücksicht auf das "allgemeine Interesse" (bien public) und den comun profit der Gesamtgesellschaft als die Feudalverträge früherer Zeit 22). Soweit der "gemeine Mann" im Kampf gegen England seine gewonnene Freiheit, die Mitherrschaft in Schottland, verteidigte, unterschied er sich in seinem (politëistischen) Patriotismus sicher kaum vom Adel.
Bürger, Bauern und Landadelige brachten indes noch eine andere Erfahrung ein: die der Nachbarschaft, die rigoros zwischen Einheimischen und Fremden trennte. In den feudalen Adelsclub konnte man per Charter aufgenommen werden, woher man auch kam; dies galt analog für die städtische Bürgergemeinde und die bäuerliche Neusiedlung. Unterhalb der politischen Ebene indes, ja geradezu unter der Bedingung politischer Formlosigkeit und Unmündigkeit, gab es in Stadt und Land ein Verhalten, das Gemeinschaft vor allem als Ergebnis von Eingesessenheit und Vertrautheit ansah und den Fremden davon grundsätzlich ausschloß. Diese Vorstellung berührte sich zweifellos mit dem archaischen Ethnozentrismus des Stammesbewußtseins und mit diesem fand sie Eingang in den Nationalismus, der das Fremde mit Namen versah - "Engländer", "Franzose", "Flame" - und dabei mehr oder minder festumrissene Eigenschaftsbilder vor Augen hatte. Damit bekam der Topos "ungerechte Herrschaft" einen weiteren Sinn: den der "Fremdherrschaft" - eine Herrschaft, die unrechtmäßig ist, weil sie von Fremden geübt wird
Ob in Form von Nachbarschaft oder Bürgerschaft, von Volk oder Staat: Mit der zunehmenden Integration ging offensichtlich ein Bedürfnis nach Abgrenzung einher, jedenfalls in Krisenzeiten. Die schottische Gesellschaft hatte eine Dichte erreicht, die Eingriffe von außen schmerzhaft werden ließ; es gab, da das Netz interner Beziehungen und Abhängigkeiten engmaschiger wurde, für das Fremde kaum noch Lücken. Dies betraf den Andrang beutelustiger Adelsherren, geschäftstüchtiger Kaufleute und pfründensuchender Priester aus England, aber mehr noch den Zugriff der englischen Verwaltung und ihrer Büttel in Stadt und Land, Reich und Kirche. Daß dieser Zugriff sich in den politisch und wirtschaftlich integrierten Landschaften des Ostens empfindlicher bemerkbar machte als in den segmentären (und schwer zugänglichen) Hochland- und Inselregionen, erklärt noch einmal, warum man im äußersten Westen der "schottischen Sache" fernstand.
Die Integration der schottischen Gesellschaft bildete demnach einen entscheidenden Grund für den hartnäckigen Widerstand gegen die englische Herrschaft. Hume Brown meinte allerdings, ohne Eduards I. Eingreifen wäre Schottland der "nationalen Desintegration" anheimgefallen 23). Daran ist richtig, daß Englands König den schottischen Bürgerkrieg zunächst als Schiedsrichter verhindern half und dann durch seinen Angriff verkürzte; ob Schottland andernfalls zerfallen wäre, mag indes bezweifelt werden. Überlegenswert ist dagegen, ob das englische Königtum nicht durch seine eigene Verfassung den schottischen Widerstand in besonderer Weise herausforderte. Gewiß: Der englische Adel sah in Schottland hauptsächlich ein Ziel feudaler Reichsvergrößerung - doch England war kein Reich im alten Sinne mehr. Die Eroberung Schottlands hätte nicht nur englische Oberherrschaft und schottische Tributleistung bedeutet. Vielmehr wäre es zur Einverleibung der terre Descoce in den englischen Staat, den englischen Markt, den englischen Kulturraum gekommen.
Eduard I. ließ daran keinen Zweifel; dies zeigt die Ladung der schottischen Lehensleute (einschließlich ihres Königs) zum Parlament nach Westminster ebenso wie später die wirtschaftlich-fiskalischen Eingriffe und die Besatzungspraxis, die sich nicht mit personalen Maßnahmen zufriedengab. Der Versuch Eduards III., den schottischen Süden zu annektieren, bestätigte diese Politik. Eine archaische Gesellschaft wie in Wales hatte solch einer Eroberung wenig entgegenzusetzen; mit Schottland war dies jedoch nicht mehr zu machen. Hier begegnete das englische Königtum einem Gemeinwesen, das ebenso auf dem Weg zu Staat und Nation war wie England selbst. Seine Unterwerfung hätte mehr geheißen als Verlust der "Freiheit" einiger Adelsherren, mehr als Dekulturation oder Akkulturation, wie sie vielen germanischen, keltischen und slawischen Stämme zu Zeiten der früh- und hochmittelalterlichen Reichsbildungen widerfahren war: Sie hätte die vaterländische (und zu Teilen schon nationale) Identität gekostet.
A. A. M. Duncan nennt denn auch "verletzten Bürgerstolz" als Grund für den "Rebellionsgeist", der die Schotten durch alle Schichten hindurch am Widerstand gegen die englische Herrschaft festhalten ließ, und bezweifelt, daß "Unterdrückung" die Ursache dafür gewesen sei 24). Er trifft damit Charakter und Motiv des Kampfes um die "königliche Würde" Schottlands ziemlich genau. Man mag über die Härte der englischen Besatzung im Einzelnen streiten; doch hatten die Schotten auf Dauer sicher keine ärgere "Tyrannei" zu befürchten, als sie den Engländern gegenwärtig war. "Bürger zweiter Klasse" wären sie (im Unterschied zu den Iren) wohl nicht geworden, soviel konnte man 1304 absehen. Aber dies genügte dem schottischen "Stolz" nicht. Freiheit und Frieden - das hieß für die Patrioten mehr als Sicherheit für Leben und Gut, mehr als begrenzte Selbstverwaltung und Teilnahme am englischen Parlament: nämlich Identität und Autonomie - die Unverletzlichkeit und Unteilbarkeit der communitas regni Scocie, wie sie im Vertrag von Birgham festgeschrieben worden war.
Was aber machte den schottischen Widerstand erfolgreich? Sicher - im Verhältnis zu Wales - die Größe der Bevölkerung und die Tiefe des Landes. Doch gegen den ungleich volkreicheren und wirtschaftlich mächtigeren Nachbarn hätte dies nicht gereicht. Tatsächlich unterlag Schottland immer wieder in offener Feldschlacht; dem schottischen Königtum fehlte es einfach an Rittern und Geld, um mit konventionellen Mitteln den massiven Angriffen der hochfeudalen englischen Kriegsmaschine zu widerstehen. Nicht der Staat, verkörpert durch König und Parlament, war deshalb am Ende siegreich, sondern Bürger, Bauern und Ritter mit ihren vielen verstreuten Einzelaktionen; ihr Kleinkrieg machte die Lage der Engländer und ihrer Trabanten in Schottland auf die Dauer unhaltbar. Der "Volkskrieg" aber entsprang, wie wir sahen, der gesellschaftlichen Integration, die vom Mittelstand ausging und keiner zentralen Steuerung bedurfte.
Noch ein weiterer Umstand trug zum Sieg der Schotten bei: die Verflechtung ihrer Wollwirtschaft mit der westeuropäischen Textilindustrie. Es handelte sich hierbei um ein Stück ökonomische Integration, die den "nationalen" Rahmen überschritt. Sie stand nur scheinbar in Widerspruch zur innerschottischen Integration und dem damit verbundenen Abgrenzungswillen. Daß auf schottischem Boden politische, wirtschaftliche und kulturelle Integration in gewissem Umfang zur Deckung kamen und sich gegenseitig verstärkten, war ein historisch Ereignis, keine logische Notwendigkeit. Wir wissen, daß England und Schottland auch nach dem Unabhängigkeitskrieg noch in vieler Hinsicht einen gemeinsamen Markt bildeten, dessen komplizierter Mechanismus Koalitionen und Konkurrenzen quer zum "nationalen" Streifenmuster nicht ausschloß.
Tatsächlich ist Abgrenzung keine Notwendigkeit vaterländischer oder nationaler Existenz, sondern ein Krisensymptom, das innere Konflikte oder äußere Bedrohung anzeigt; unter Friedensbedingungen findet die innergesellschaftliche Integration in der "übernationalen" Integration ihre natürliche Fortsetzung, ohne daß freilich das zwischengesellschaftliche Gefälle zum Ausgleich kommen müßte. Die wechselseitige Abhängigkeit der schottischen und der westeuropäischen Wirtschaft (einschließlich der englischen) ist demnach ein weiterer Beleg für die Modernität Schottlands, die sich beim Kampf um die Unabhängigkeit bezahlt machte. Möglicherweise griffen die flämischen, deutschen und englischen Kaufleute jenseits ihres Profitinteresses für den schottischen Regionalismus nicht zuletzt deshalb Partei, weil er auf der Linie ihrer eigenen "bürgerlichen" Entwicklung lag.
Fortsetzung ...



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© Andreas Kalckhoff, Version März 2001




































Anmerkungen

15) J. F. McGOVERN, 'New Economic Attitudes', 1970. ... zurück zum Text
16) J. F. McGOVERN, 'New Economic Attitudes', 1970, p. 230. ... zurück zum Text
17) Vergleiche dazu: S. THRUPP, 'Social Control', 1941, p. 47; F. H. KNIGHT, The Ethics of Competition', 1935, p. 49; E. ENNEN, 'Europäische Stadt', 1972, pp. 51, 208; weitere Literatur dazu bei Thrupp. ... zurück zum Text
18) Integration bedeutet also nicht, wie etwa Hechter meint, Einebnung kultureller, ökonomischer und politischer Unterschiede (M. HECHTER. 'Internal Colonialism', 1975, pp. 18f.); diese Unterschiede kommen vielmehr, im Zuge der Integration, in stärkerem Maße zum Tragen und führen zu internen Spannungen, die zu beseitigen eine "nationale" Propaganda antritt, die Einigkeit fordert. ... zurück zum Text
19) D. D. MURISON, 'Nationalism in Scottish Literature', 1969, pp. 189 f. ... zurück zum Text
20) So stellt sich dies Birch vor (A. H. BIRCH, 'Political Integration and Disintegration in the British Isles, 1977, p. 32); sein Integrationsbegriff ähnelt dem von Hechter (vgl. Anm. 18) und meint ebenfalls Aufgabe von Individualität zugunsten einer Kollektivität - also "Gleichschaltung". Hier wird Integration mit Assimilisation verwechselt. ... zurück zum Text
21) Dies gegen Nairn (T. NAIRN, 'Der moderne Janus' (1975), p. 12). ... zurück zum Text
22) J. MACKINNON, 'Franco-Scottish League', 1910, pp. 119 f. ... zurück zum Text
23) P. H. BROWN, 'Moulding of Scottish Nation', 1904, p. 247 ... zurück zum Text
24) A. A. M. DUNCAN, 'Community', 1966, p. 193. ... zurück zum Text




























© Andreas Kalckhoff, Version 9. März 1996